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Apokalypse Now?

Heinar Kipphardt: In der Sache J. Robert Oppenheimer

Theater:Deutsches Theater Berlin, Premiere:20.01.2019Regie:Christopher Rüping

Am Ende ist die ganze Nostalgie weggefegt, die im Laufe des Abends mit schicken Sesseln aus den 1950ern, mit holzvertäfelten Bücherwänden, Drinks und Toast Hawaii hereingetragen worden war. Am Ende steht Maike Knirsch als Anwältin der Atomenergiekommission auf leerer, weißer Bühne und hält das Schlussplädoyer der „Anklage“, das ihr nicht Heinar Kipphardt, sondern Christopher Rüping in den Mund gelegt hat. Kleine, leuchtende Roboter fahren umher, dazu dröhnen die Bässe, Nebel steigt auf und projiziert das historische Foto von J. Robert Oppenheimer. Es ist der effektvolle ästhetische Höhepunkt nach einer langen, wortreichen Verhandlung.

Kein moralischer Zeigefinger wird hier geschwungen, keine Mahnung ans Publikum, nicht allzu fortschrittsgläubig zu sein. Was würde es nutzen? Wer würde nicht zustimmen, dass die Atombombe der Welt nichts Gutes gebracht hat? Rüping entscheidet sich deshalb für das Gegenteil: Er lässt die Anklägerin Oppenheimer als einen Verräter an der Zukunft schmähen, einen Zyniker, der aus Angst und aus Nostalgie die Zukunft verhindern möchte, die aber längst nicht mehr zu verhindern ist. Die Menschen, sagt sie, hatten schon immer Angst vor Veränderung, sie aber wolle kämpfen für eine freie, radikale Welt, die über die Begrenzung der Erde hinausgeht, über die Begrenzung unserer Körper. Und so emphatisch, wie Knirsch das formuliert, beginnt man nachzudenken, was passiert wäre, wären alle Forscher stets ihrer Angst gefolgt, dieses Medikament oder jene Erfindung unter Verschluss zu halten.

Felix Goeser schreitet dazu als alter, müder Indianer Oppenheimer mit Federschmuck über diese Zukunftsbühne, seine Zeit ist vorbei. Nur die Stimme seiner früheren Verlobten Jean Tatlock klingt noch einmal aus dem Off. Auch ihre Worte hat Rüping dem Text Kipphardts hinzugefügt. Sie hat sich umgebracht – weil sie, wie sie in ihrem (tatsächlich existierenden) Abschiedsbrief schrieb, die Welt nicht mehr verstanden hat; weil sie die von Kampf und Krieg beherrschte Erde nicht mehr mit einer vor Angst gelähmten Seele belasten wollte. Oppenheimer und Tatlock – sie sind die Menschen, denen Rüping mehr als bloß Verstand zugesteht: Angst, Leid, Liebe, Gewissen. Doch all das ist hier Teil der alten Welt.

J. Robert Oppenheimer gilt als „Vater der Atombombe“. Er hat sie entwickelt und den Abwurf über Hiroshima im Zweiten Weltkrieg wissenschaftlich begleitet. Zehn Jahre später wurde er vor einen Untersuchungsausschuss gestellt: Seine Staatstreue wurde angezweifelt, weil er Skrupel gezeigt hatte, die noch wirkungsmächtigere Wasserstoffbombe zu bauen. Heinar Kipphardt hat aus diesem Stoff 1963 jenes politische Dokumentartheaterstück gemacht, das weltberühmt wurde. Schon damals ging es nicht nur um den Fall Oppenheimer, sondern um die Frage, welche moralische Verantwortung Wissenschaftler für ihre Erfindung, für die Folgen des technischen Fortschritts tragen. 55 Jahre später sind diese Fragen noch genauso brisant. Neben der nuklearen Bedrohung, die mit Donald Trump wieder gestiegen ist, stellen uns heute die Digitalisierung, die Möglichkeiten der Überwachung, die Künstliche Intelligenz, die Genforschung vor neue ethische Konflikte.

Rüping tut nicht das Naheliegende, er aktualisiert das Stück nicht einfach mit diesen Aspekten. Im Gegenteil: Er verlässt die Ebene des konkreten Beispiels und setzt auf die grundlegende Debatte. Es ist die klügere Herangehensweise, die das Stück auf die dialektische Grundfrage zurückwirft: bewahren – oder erneuern? Rüping inszeniert Oppenheimer als den Bewahrer, der davor zurückschreckt, Türen zu etwas aufzustoßen, das die Kraft hätte, den Planeten zu zerstören. Oppenheimer sagt im Stück über die Atombombe: „Wir haben sie gebaut, um zu verhindern, dass sie verwendet wird.“ Sie sollte ein Schutz vor Hitler, eine Bedrohung für Angreifer sein. Sein Gegenspieler ist Edward Teller, der später die viel zerstörerische Wasserstoffbombe entwickelt: „Es ist nicht die Schuld der Physiker, dass aus genialen Ideen immer Bomben werden.“ In einer kleinen, erfundenen Party-Szene kredenzt dieser Teller Toast Hawaii für seine Gäste, in der damals gerade auf den Markt gekommenen Mikrowelle – eine Erfindung, die ebenfalls in einem Militärlabor gemacht wurde, aber zu einer freundlichen, zivilen Anwendung führte.

Im ersten Teil des Abends schauen wir noch auf eine ebenso weiße Bühne wie in der Schlussszene, darauf nur ein runder Tisch. Das Personal hat Rüping reduziert, auf eine Dame aus dem Sicherheitsausschuss, dazu ein „Kläger“, ein Verteidiger und einen Spieler, Michael Goldberg, der alle Zeugen mithilfe unterschiedlicher Schnauzbärte und Brillen recht satirisch verkörpert. Gemeinsam mit Oppenheimer sitzen alle um diesen Tisch und verhandeln, wie es das dokumentarische Material Kipphardts vorsieht – vor ihnen Kameras, die ihr Gesicht in Großaufnahme auf einer Leinwand zeigen. Doch alle tragen einen Knopf im Ohr und sprechen nur das, was ihnen eine Protokollantin vorsagt. Zum einen wird auf diese Weise deutlich, dass es sich hier um ein historisches Dokument handelt, das lediglich nachgespielt wird. Zum anderen zeigt sich so, dass die Akteure hier Instrumente und Spielbälle einer höheren, vermutlich staatlichen Instanz sind. Die Anhörung war schließlich während der McCarthy-Ära Teil der großen Hexenjagd gegen angebliche Kommunisten.

Rüping hat einen intellektuell fordernden, klugen, auch mitunter farcenhaften Abend inszeniert – doch vor allem im zweiten Teil lädt er sich immer bildreicher auf, wird zudem vielschichtiger, gefühlvoller, komplexer. Ein Dokumentartheater, das nicht nur auf Fakten und Recherche setzt, sondern auch auf Sinnlichkeit.