Foto: Ensemble der Bremer Shakespeare Company in "Der seltsame Fall der Prudencia Hart" © Marianne Menke
Text:Jens Fischer, am 12. November 2022
Wie gut passt diese Einladung in unsere Zeit! Wir sitzen dick verpackt in der runtergekühlten Wohnung, angstvoll zitternd vor der nächsten Strom- und Gasrechnung; vor Energiekrise, Inflation, Krieg und Corona, da lockt die Bremer Shakespeare Company (BSC) zur deutschsprachigen Erstaufführung von David Greigs „The Strange Undoing of Prudencia Hart“. Geschrieben ist der Text für ein wildes, Whiskey-seliges soziales Kuschelfest, einen Ceilidh-Abend mit Scotish-Folk, Tanz und Gesang in einem Pub. Statt einer Bühne braucht es nur einen solch urigen Raum, eine packende Geschichte und viel Fantasie.
Greig setzt auf kalauernde Reime als liebevoll ironische Erinnerung an die Border Ballads, die in den Kriegs-, Familienfehden-, Raubritterzeiten zwischen 1300 bis 1600 in der Grenzregion zwischen Schottland und England gesungen wurden. Sie handelten von den rauen Zeiten voller Geistern, Dämonen und Helden, weinten über tragische Liebesgeschichten oder schwangen sich in mythische oder märchenhafte Gefilde auf. Zur Selbstvergewisserung kamen verunsicherte Menschen zusammen und lauschten den Balladendichtern – wie sie bei Greig nun zeitgenössischen Schauspielersängermusikern zuschauen sollen. Dazu hat die BSC ein Drittel der Zuschauertribüne abgehängt, vor die Bühne bestuhlte Tische platziert und eine Bar fürs Publikum eröffnet (Ausstattung: Rike Schimitschek), das beim Stichwort Schnee gern mitspielt und zerfitzelte Eintrittskarten zum Herabrieseln in die Luft wirft. Selten war es so gemütlich im Theater am Leibnizplatz.
Unter Anleitung der feinfühlig musizierenden Violinistin/Akkordeonspielerin Karin Christoph versucht sich das Ensemble an traditioneller Pub-Musik, wechselt aber schnell in ihr Schauspiel-Metier. Greig bietet den Darstellerinnen und Darstellern alle Facetten der Ballade, also die lyrische, diverse metrische und strophische Möglichkeiten nutzende Rede, und das Epische (eine Erzählerstimme führt immer mal wieder durch die Handlung) sowie das dramatische Element durch die Strukturierung um wenige Situationen hin zur Moral von der Geschicht‘ und den Einsatz von Dialogen.
Unter der Regie von Patricia Benecke sind alle Neben- eher als Witzfiguren gezeichnet. Sofie Alice Miller gestaltet ihre Prudencia Hart dagegen ernsthaft als Charakter. Gibt also glaubwürdig und integer das, was der Name verspricht: eine zugeknöpfte, einsame Literaturwissenschaftlerin, die über die „Topographie der Hölle“ in der schottischen Volkskultur promoviert hat und nun auf einer Konferenz in einem Kaff nahe der englischen Grenze unbeirrt ihre Thesen zur erzählerischen Kunst der Border Ballads vorstellt. Deren Schönheit behauptet sie als authentischen, beseelten Ausdruck menschlichen Denkens, Fühlens und Sehnens – im Gegensatz dazu stünde heutige Kommunikation mit stummelstotterigem Social-Media-Geschwätz. Die Ausführungen tut ihr machoaffiger Gegenspieler Colin als „naive Nostalgie“ und „romantischen Quatsch“ ab.
Schreckliche Heimkehr
Die Akademikerparodien machen Spaß, Harts strahlend kluger Beharrungswille bereitet Freude. Auch wenn die Inszenierung kein perfekt immersives Vergnügen ist, weil das Ensemble eben nicht wie die Balladenkünstler mit gleicher könnerischer Leidenschaft singen, musizieren, erzählen und spielerisch verzaubern kann. Die Darstellerinnen und Darsteller wuseln in der Premiere zwar gekonnt rollenwechselnd durchs Publikum, aber es wirkt noch gewollt, nicht selbstverständlich leicht. Ein Manko, das in den Folgeaufführungen sicherlich abgestellt wird.
Und die Geschichte? Eintrittskartenschnipselregen also Schneetreiben verhindern Prudencias und Colins Heimfahrt. Wintersonnenwende. Beide flüchten in eine bizarre Kneipe, wo betont nervtötend schlecht Songs dargeboten werden und nervtötend besoffene, übergriffige Party-People die in ihrem Prüderie-Verständnis gefangene Prudencia in die Flucht schlagen, wo sie dem einladend freundlichen Teufel begegnet. Mit ihm bewohnt sie fortan die Hölle als Zweier-WG. Wobei der Tonfall in Prosa wechselt und Darsteller Simon Elias mit der Frische seines Spiels aus dem BSC-Ensemble heraussticht. Zum charmant komödiantischen Höhepunkt des Abends wird die Szene, als Prudencia ihre strenge Hochsteckfrisur öffnet, sich in Luzifers Bibliothek verlustiert, dabei wie in der Balladen-Poesie vorformuliert allen Mut zusammensammelt, um die dort gefeierte wahre Liebe auch bei sich als Gefühl zuzulassen. Selbstfindung. Selbstermächtigung. Selbstentäußerung. Sie spricht von erotischer Spannung, massiert ihren pferdefüßigen Gastgeber – und verführt ihn.
Dann aber verlassen alle bisher Regie führenden guten Geister die Aufführung: Prudencias Rettung aus der Hölle kommt im Stile der Comedy-Ödnis daher, die wir in Bremen aus Stücken wie „Bürobiester“, „Nackte Tatsachen“, „Männer allein zu Haus“ vom Theaterschiff, aus dem Packhaus- sowie Boulevardtheater kennen. Ein solches Schauspielniveau ist inakzeptabel für ein Haus, das Theater als Kunstform versteht. Aber bis zu diesem traurigen Mitklatsch-, Mitgröhl-, Vulgär-Jux-Finale funktioniert die traumhafte Reise, selbst gesetzte Grenzen zu überwinden, Verklemmtheiten zu entfesseln und sich der Welt zu öffnen, durchaus als lebensbejahend ausgelassenes Fake-Kneipen-Vergnügen.