Das „Doping“-Ensemble

Vom Highperformer zum Hosenpiesler

Nora Abdel-Maksoud: Doping

Theater:Münchner Kammerspiele, Premiere:05.04.2024 (UA)Regie:Nora Abdel-Maksoud

Nora Abdel-Maksoud hat ein neues Stück geschrieben und an den Münchner Kammerspielen inszeniert: „Doping“ ist eine bitterböse Farce über einen aufstrebenden FDP-Politiker, der aufgrund einer Krankheit seinem Highperformer-Image nicht mehr entsprechen kann und auf ein Gesundheitssystem angewiesen ist, von dem wenig übrig geblieben ist.

Irgendwann gegen Ende dieses Abends fällt dieser Satz, der im Raum stehen bleibt: „Es besteht doch zumindest der Verdacht, dass deine Verwundbarkeit kein Spezialfall ist“, sagt da Dr. Bob zu Lütje Wesel, dem aufstrebenden FDP-Kandidaten, der leider dazu neigt, sich während öffentlicher Auftritte in die Hose zu pieseln, und dieses Problem um jeden Preis loswerden will. Schließlich passt das so gar nicht zu seinem Highperformer-Image. Und genau davon handelt das neue Stück von Nora Abdel-Maksoud, das sie jetzt an den Münchner Kammerspielen inszeniert hat: vom Umgang mit der eigenen Schwäche. Und allem, was damit zu tun hat. Denn natürlich ist das keine Klamotte über einen Hosenpiesler, sondern eine über das Menschenbild der FDP. Das Wort „Care-Arbeit“ fällt selten an diesem Abend, aber es steht permanent im Raum wie der sprichwörtliche Elefant.

Apropos Raum: der ist außen rostig, innen mit rotem Samt verkleidet, rund – und sehr leer. Er wirkt wie das Überbleibsel eines repräsentativen Saals oder eine unvollendete Absichtserklärung. Ein bisschen also ist er wie dieser Lütje Wesel selbst. Unvollkommen. Eine Hülle, die nicht hält, was sie verspricht. Moïra Gilliéron hat diesen Zufluchtsort gestaltet, an den Schatzmeister Ole Hagenfels-Jefsen-Bohn und seine Tochter und Stellvertretende Vorsitzende Jagoda Hagenfels-Jefsen-Bohn den bewusstlosen Lütje nach seinem Zusammenbruch schleifen und der verspricht, ein geheimer Ort der Heilung zu sein, eine Werkstatt für kaputte Politiker quasi.

Ein tragischer Konflikt

Nora Abdel-Maksoud bringt zwei Themen zusammen: das asoziale Menschenbild der FDP, in dem Schwäche gleich Versagen ist, und das soziale System, das die „Schwachen“ auffängt. Indem sie diesem Lütje Wesel eine unerklärliche und höchst peinliche Krankheit andichtet, schafft sie inmitten der Komödie einen klassischen tragischen Konflikt: zu seiner Schwäche stehen und sein eigenes Weltbild verraten? Oder einfach weitermachen und als Hosenpiesler-Politiker in die Annalen eingehen? Vincent Redetzki spielt diesen inneren Konflikt meisterhaft aus. In seinem Nadelstreifen-Dreiteiler tritt er zu Beginn vor den Eisernen Vorhang und schwingt seine Motivationsrede, immer wieder blinkt die teure Uhr an seinem Handgelenk auf. Er beherrscht seinen Job, keine Frage, reagiert routiniert auf die Pöbler, die aus dem Zuschauerraum dazwischenrufen. Rhetorisch ist er auf der Höhe, redet viel, auch wenn er im Grunde nichts sagt. Wäre da nur nicht dieser schwache Körper. Zunehmend windet Lütje sich, reißt sich zusammen, bis es nicht mehr geht – und er mit nasser Hose dasteht, ohnmächtig zusammenbricht. Die Hoffnung des Ortsverbands, der „Chancen-Verwirklicher“: ein Hosenpiesler.

Abdel-Maksoud denkt die Probleme – in diesem Fall unter anderem das marode-gesparte Gesundheitssystem – auf die Spitze: Wie wäre es denn, wenn man seine Krankheiten und Zipperleins gegen Geld einem anderen aufladen könnte? Die Krankenpflegerin Gesine würde mittels Umarmung und gegen Bezahlung Lütjes Leiden auf sich transferieren, eine „Win-Win“-Situation quasi. Sie hat das Geld, das sie dringend braucht, er die Gesundheit. Moralische Zweifel? Unangebracht, findet Ole: „Streif das mal ab jetzt. Das dünne zivilisatorische Mäntelchen. Das steht dir nicht, Lütje. Arme sterben früher, Arme sind öfter krank, Arme sind nicht privat versichert und bekommen von uns keine Impfstoffpatente. Sind das Neuigkeiten für dich?“ Krankheit für die Armen, Gesundheit für die Reichen. Im Grunde sind wir längst mittendrin im Zwei-Klassen-System. Warum also nicht einfach konsequent weiterschreiten auf diesem Weg? Das alles könnte jetzt eine sentimentale und ziemlich rührselige Mitleids-Schmonzette werden. Doch Abdel-Maksoud ist keine, die sich für eindimensionale Figuren interessiert. Sie schafft ein Panoptikum der Gegenwart und feuert ihre Pfeile in alle Richtungen ab. Ihre Figuren sind allesamt skurrile Gestalten, die Cleo Niemeyer-Nasser in detailverliebte Kostüme gesteckt hat. Und Dr. Bob hat schon Recht, wenn er zu Lütje sagt: „Vielleicht, wenn ich meinen unwüchsigen, großen Seemannszeh für einen Moment in psycho-sozio-politisch tiefes Wasser tauchen dürfte, ist deine Verwundbarkeit das, was du mit allen hier teilst.“

Surreale Realitäten

Wiebke Puls spielt diesen abgehalfterten Arzt, der in irgendeiner der vielen Gesundheitsreformen aus der Kurve geflogen ist, mit einer großen Lust am Abstrusen und einem bezaubernden friesischen Dialekt. Eva Bay ist Gesine, Geburtshelferin und Geliebte von Dr. Bob, und sie ist zugleich die am härtesten Getroffene und die Gerissenste von allen. Wäre da noch Ole, gespielt von Stefan Merki, für den Krankheit ein Fremdwort ist und alles eine Frage des Willens. (Dass er „sprechbeschränkt“ ist und nicht vor Menschen reden kann, lässt er unter den Tisch fallen.) Tochter Jagoda und ewig Zweitplatzierte hat Papas „Mindset“ übernommen, ihre Schwächen dagegen sind offensichtlich: Sie ist eine Frau und obendrein eine Schwangere. Şafak Şengül spielt sie immer auf dem Sprung zur Revolution, allzeit bereit für einen feministischen Ausbruch aus ihrem privaten patriarchalen Problem namens Ole. Und ohne zu viel zu verraten: Wo an diesem Abend der nassen Hosen eine Fruchtblase ist, wird diese früher oder später platzen.

Kurz: dieser Abend ist gesteckt voll mit den Problemen, die uns umgeben. Er packt die banalen Realitäten in das beinahe surreales Setting eines Unterwasser-„Careboots“, in dem die Schwächen der Starken ganz unsichtbar behoben werden sollen. Dass die Pointen und Thesen hie und da so schnell aufeinander prasseln, dass kaum Zeit bleibt, ihnen zu folgen, mag sich noch einspielen. Alles in allem ist das ein kluger, bitterböser und trotzdem (oder gerade deshalb) extrem lustiger Abend.