Zu sehen ist das Theater an der Ruhr in Mülheim, atmosphärisch in lila angestrahlt bei Nacht.

Neue Spielzeitinseln in Mülheim

Das Theater an der Ruhr bietet in dieser Spielzeit neue Theaterformate an. Am Beginn stand „Rausch 1“.

Ist es denkbar, eine Theaterbar dramaturgisch zu vernetzen? Fragt man Sven Schlötcke, einen der drei künstlerischen Direktoren des Theaters an der Ruhr, ist das sogar unbedingt erforderlich. „Über alles und jedes haben wir dramaturgisch nachgedacht“, sagt der Dramaturg Schlötcke, mit dem Ergebnis, tiefgreifende strukturelle Veränderungen vorzunehmen, was den Spielplan, aber auch den Aufbau einer Spielzeit betrifft. Anstelle des bisherigen Repertoirebetriebs, der eine Aufführung nach der anderen hervorbringt und sie so lange wie möglich im Spielplan hält, finden in Mülheim künftig drei sogenannte Spielinseln pro Jahr statt, die unter einem gemeinsamen Motto stehen. Für den Anfang heißt es „Rausch“. „Die Aufführung, das Glas Sekt hinterher, und das war’s – das geht nicht mehr“, erklärt Schlötcke. Was ihm und den beiden anderen Theaterdirektoren Helmut Schäfer und Philipp Preuss stattdessen vorschwebt, ist eine „Gesamtinszenierung“, in der alles mit allem zusammenhängt.

Das Projekt hat viele Konsequenzen, die nicht zuletzt einem Generationswechsel sowohl im Ensemble als auch im Publikum Rechnung tragen. In „Rausch 1“, der im August/September trotz durchwachsenen Wetters teilweise open air über mehrere Bühnen im Raffelbergpark ging, war auch das Festzelt selbst bei akademischen Vorträgen gut gefüllt. „Wir haben uns gefragt, wo auf einmal die ganzen jungen Leute herkommen“, erzählt Schlötcke. Im Park und im Haus, also im alten Solbad, gab es eine Reihe von Videoinstallationen zu sehen, eine unter dem Titel „Zabriskie Point“, die Michelangelo Antonionis Film von 1970 mit Drogenexperimenten von Michel Foucault im Death Valley zusammenbringt. Das Thema Rausch scheint junges Publikum zu interessieren, wobei der weiße Schatten, den das Werk des 89-jährigen Theatergründers Roberto Ciulli auf alle Unternehmungen wirft, nicht zu leugnen ist. Der Österreicher Philipp Preuss ist nicht formell Ciullis Nachfolger, aber einen Teil seiner Rolle hat er durchaus übernommen.

Man sieht den RAUSCHgeneration, eine Installation der RaumZeitPiraten im Kunstparcours, der vor einem Gewässer und mitten im Grünen steht.

Der RAUSCHgenerator der RaumZeitPiraten im Kunstparcours. Foto: Franziska Götzen/TAR

Theatraler west-östlicher Diwan

Das Theater an der Ruhr hat sich schon seit jeher als ein alternatives Projekt verstanden, das weit mehr Flexibilität verlangt und andere Leitungsrhythmen voraussetzt als ein normales Stadttheater. Dort werden alle fünf oder spätestens zehn Jahre die Direktionen und meist auch die Ensembles ausgetauscht, um etwas ganz anderes zu beginnen; in Mülheim waren Ciulli und Helmut Schäfer 40 Jahre lang konstant da, und auch nicht wenige Spieler und Spielerinnen sind lange geblieben. Flexibilität ist hier anders gemeint: Alle haben nach Möglichkeit den gleichen Vertrag, aber sie halten auch nicht stur an ihrem festgeschriebenen Arbeitsplan fest. Trotzdem, die „reine Lehre“ einer verschworenen, exklusiven Truppe sei passé, erläutert Schlötcke, ebenso die scharfe Trennung zwischen Festen und Gästen im Ensemble. Es sei doch „gut für die Durchlüftung“, wenn Spieler zwischendurch mal einen Film drehten oder anderswo gastierten. Sektionale Eifersucht: Auch die ist passé.

Was nicht heißen soll, dass zwischen den drei Inseln nichts passiert. Dann werden die neuen Projekte vorbereitet (lange Probezeiten waren in Mülheim schon immer üblich), aber spezielle Formate wie junges Theater, Szene Istanbul, arabischsprachige Projekte oder diverse Workshops stehen weiterhin auf dem Plan. Das Theater an der Ruhr hat sich seit jeher als so etwas wie ein theatraler west-östlicher Diwan begriffen. Auch dies ist Ciullis Vermächtnis. Der für seinen Teil, in „Rausch 1“, nun allerdings etwas dezidiert Westliches in Szene gesetzt hat: einen Abend über den avantgardistischen, für verrückt erklärten und in die Psychiatrie verfrachteten Theaterpionier Antonin Artaud unter dem Titel „Ich, Antonin Artaud – Le Mômo“. Und der ist ein Coup.

Zu sehen ist ein Szenenfoto aus „Ich, Antonin Artaud – Le Mômo“ (UA) von Roberto Ciulli nach Antonin Artaud. In der Mitte sitzt jemand auf einem Stuhl, überdeckt mit dünnen Fäden.

Szene aus „Ich, Antonin Artaud – Le Mômo“ (UA) von Roberto Ciulli nach Antonin Artaud. Foto: Franziska Götzen/TAR

Zeitlos und Unprätentiös

Die Bühnen- und Kostümbildnerin Elisabeth Strauß, schon seit einiger Zeit Ciullis bevorzugte Partnerin, hat im Hintergrund der Bühne, vor der Apsis, die den ehemaligen Tanzsaal abschließt, einen Berg aufgeschichtet, dessen Außenhülle aus einer Fülle von schimmernden Tonbändern besteht. Auf dem Berg thront Steffen Reuber mit Dreispitz, brillant trägt er dort oben den Monolog eines Dominikanerpaters von 1542 vor, der von den auf den „westindischen Inseln“ verübten Gräueltaten handelt, die die spanischen Eroberer den Ureinwohnern antaten. Fremdtext! Aber Artaud hat sich ein Theaterleben lang an den Ideologien und Praktiken der sogenannten, in Frankreich durchaus beheimateten, „Christen“ abgearbeitet wie auch an anderen Gepflogenheiten, die auf Kontrolle und Repression zielten. Nicht zuletzt verstand sich ja auch die seinerzeit übliche Psychiatriepraxis als „christlich“, unter der Artaud jahrelang zu leiden hatte. Den behandelnden, im Prinzip wohlwollenden, aber vollkommen verständnislosen Arzt spielt Reuber mit Schnabelnase.

Großartig ist Bernhard Glose in der Rolle des „Mômo“, eines subversiven Kindskopfs mit weißer Strubbelfrisur. Und Simone Thoma, die während der Proben starb, ist im Video und akustisch gegenwärtig, wie im Trotz gegen das scheinbar sinnlose Wirken der Zeit. Diese Arbeit hat gewissermaßen etwas Zeitloses, ganz Unprätentiöses, sie steht als berührendes Dokument und bleibendes Statement im Raum.

Zu sehen ist ein Szenenfoto aus Philipp Preuss’ Open-Air-Inszenierung von Euripides’ „Backchen“. Im Vordergrund links eine Frau mit zwei großen, geschwungenen Zöpfen. Im Hintergrund zwei Frauen hinter einem Stuhl und davor ein Mann, der auf dem Schoß eines anderen sitzenden Mannes liegt.

Szene aus Philipp Preuss’ Open-Air-Inszenierung von Euripides’ „Backchen“. Foto: Franziska Götzen/TAR

„Bakchen“ open-air

Philipp Preuss’ Open-Air-Inszenierung der „Bakchen“ von Euripides kommt da nicht ganz mit. Die Livemusik von Subbotnik ist mitreißend, aber der Abend ist allzu effektbewusst geraten, eine längliche Fremdtextpassage treibt einen Keil ins Ganze, von dem dieses sich nicht mehr erholt. Generationsübergänge verlaufen nicht schlicht so, dass auf etwas Gutes zwangsläufig etwas immer Besseres folgt.

Angesprochen übrigens auf die Frage, ob dem Theater an der Ruhr nicht eine deutlichere feminine Perspektive fehle, erklärt Schlötcke, ja, man arbeite daran. Er nennt Katharina Stoll, die in der letzten Spielzeit in der Tat eine überzeugende Überschreibung von Büchners „Woyzeck“ erarbeitet hat. Des ungeachtet könnte das aus drei Männern bestehende Leitungsgremium zweifellos weibliche Verstärkung gebrauchen. Sven Schlötcke ist zuversichtlich, dass es auch damit klappt.

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 11/2023.