All systems fail oder In den Gängen stehen Leute
Foto: Rainald Goetz sieht die „Verspätung“ der Literatur als Qualität von Literatur. Das Bild stammt aus der jüngsten Goetz‘-Uraufführung, „Lapidarium“ am Münchner Residenztheater © Sandra Then Text:Boris C. Motzki, am 27. Oktober 2025
Der Mainzer Schauspieldramaturg Boris C. Motzki hat sich in einem Essay jenseits der Hektik des Theateralltags auf die Suche nach der Geschichte der Zeit im Theater gemacht. Und landet bei Freiräumen, die wir in unserer übereilten Debattenkultur dringend benötigen.
In seiner Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2015 definierte Rainald Goetz die Langsamkeit, genauer die „Verspätung“, mit der Literatur entsteht, als eine ihrer höchsten Qualitäten: „Sie stellt sich der Welt, aber langsam“. Der Autor erreiche durch eigene Erfahrung, Wissen und Mitgefühl für das Leben anderer ein Denken, das – kompliziert mit Wirklichkeit aufgeladen – dadurch erst zur öffentlichen Rede beziehungsweise Veröffentlichung berechtigt sei.
Blickt man auf unsere jetzige Zeit, in der die Krisen immer schneller, immer heftig kulminieren – oder wir durch die aufgejazzten Berichterstattungsmöglichkeiten im Bereich Social Media und Co. es so wahrnehmen –, weiß man demzufolge also gar nicht mehr, wie man der Ver- und Bearbeitung der Themen im Künstlerischen nachkommen soll.
Literatur versus Journalismus
Goetz hat damals in seiner fulminanten Rede weiter ausgeführt, dass verschiedene Gattungen verschiedene Verarbeitungs- wie Bearbeitungszeiten benötigen: Der Journalismus ist abhängig von Tagesaktualität, das Kabarett ebenso, damit der Witz, der auf derzeitige Geschehnisse rekurriert, funktioniert.
Literatur aber benötige viel längere Zeit, um sich mit einer Thematik komplex auseinanderzusetzen. Sie geht den ersten Schritt der Recherche mit dem Journalismus mit, braucht dann aber Distanz und Abstraktion zur künstlerischen Transformation: „Die Aufgabe auszusprechen, was gerade an Ideen kursiert, um es debattierbar zu machen, gehört dem Journalismus, der den Diskurs von Seiten des Kollektivs her vertritt, die Literatur kann das nicht. Sie kann sich aber von diesem Defizit provozieren lassen, vor allem dazu, die Weltmaterialfülle, die der Journalismus anliefert, aufzunehmen.“
Zeit im Theater
Wie sieht das speziell im zeitgenössischen Theater, in der Dramatik wie der Inszenierung aus? War es nicht in den noch nicht vergessenen, aber gern verdrängten Zeiten der Pandemie so, dass vielerlei nach Corona-Stücken geschrien wurde, da man diese durch die Maßnahmen in den Inszenierungen zwangsläufig durch Abstand und Maske eingeschrieben sah?
Wenn man zurückblickt, gibt es nicht viele Texte über die Pandemie, sondern eher Texte über die Zeit davor und die (Auswirkungen) danach. Zudem merkt man immer wieder, dass schnell entstandene Texte reflexhaft und nicht reflektiert sind. Elfriede Jelineks oft hurtig angefertigte und dennoch so komplexe Texte zum aktuellen Zeitgeschehen bilden hier eine wohltuende Ausnahme, da sie auch und vor allem immer sprachkritische Werke sind. Andere wieder, die auf aktuelle Themen recht schnell zugreifen, können gelingen, wenn es genug Vorrecherche gibt und ihr Gewand ein eher dokumentarisches oder satirisches ist.
Vergänglichkeit
Die vielfach analysierte und interpretierte Zeit ist aber generell Kernbestand fürs Überleben des Mediums Theater, ist doch das einzige Distinktionsmerkmal in unseren Tagen die Transitorik einer Aufführung. Das Momentum des Vergänglichen, des Einzigartigen und Unwiederbringlichen des Live-Erlebens im Theater sorgt dafür, dass das Medium trotz Streamingportalen und Vergleichbarem weiter bestehen kann. Denn die Sehnsucht nach Begegnung im Hier und Jetzt, dem Wertherschen Postulat sozusagen, ist – und das ist nicht vergessen – gerade durch die Pandemiezeiten wieder gestiegen.
Ein anderer Vergänglichkeitsbegriff kommt einem hierbei wieder in den Sinn, nämlich der im Barock benutzte Vanitas-Begriff, bei dem als eitel, nichtig, vergänglich definiert ist/wird, was dem Tode nicht entrinnen konnte. „Memento mori!“ war die Devise, wir sind heute eher dem instagrammablen Abbild eingedenk als dem des Todes.
Theaterleben als Rennbahn
Andreas Gryphius wies in seinem 1646 entstandenen Gedicht „Abend“ auf die Rastlosigkeit wie Flüchtigkeit des Daseins hin:
„Gleich wie diß Licht verfil / so wird in wenig Jahren//Ich / du / und was man hat / und was man siht / hinfahren.//Diß Leben kömmt mir vor als eine Renne-Bahn.“
Das Theaterleben als Rennbahn zu bezeichnen, ist eine ähnliche Binsenweisheit wie Vergils überzitierte Zeitbestimmung „Fugit irreparabile tempus“ (Die Zeit flieht unwiederbringlich), und dennoch ist beides von hohem Wahrheitsgehalt. Theaterinszenierungen sind von Flüchtigkeit und Unwiederholbarkeit bestimmt. Sie sind selbst bei Konservierung nicht rettbar bezogen auf das Erlebnis des Zuschauenden, der immer auch ein Sehender, sprich ein Erkennender sein kann: ein Beobachter des Beobachters der Beobachter, wie der Untertitel in Dürrenmatts „Der Auftrag“ heißt.
Ein jüngeres Beispiel aus der Theatergeschichte für den im Zuschauen liegenden Doppelvoyeurismus sowie die verschieden gefühlte Zeit von Produzent und Rezipient ist Marina Abramovićs Performance „The Artist Is Present“ (2010), auch „700 hrs“ genannt: Im Museum of Modern Art in New York verharrte sie täglich sieben Stunden auf einem Stuhl, um dem jeweiligen Besucher auf dem Stuhl ihr gegenüber in die Augen zu schauen. Brennglashafter kann die gleichzeitige Nähe wie Distanz zwischen den beiden Positionen und vor allem die Verlängerung gefühlter Zeit kaum beschrieben werden. Minuten können hier zu Stunden werden, aber durch die Intensität des Moments kann auch die Zeit verknappt werden.
Zeitspiel als Theaterskandal
Wie inszenierte Zeit so gedehnt werden kann, dass sie die Rezipienten zum Furor treibt, machen zwei Beispiele des absurden Theaters deutlich, die zu nachkriegsdeutschen Theaterskandalen führten. Zum einen ist das Gustav Rudolf Sellners Darmstädter Inszenierung von Ionescos „Opfer der Pflicht“ (1957), in der der Protagonist Choubert immer und immer wieder Baumrinde zu kauen bekam, „und unter den im Chor gesprochenen Kommandos ‚Kauen!‘ ‚Runterschlucken!‘ ‚Kauen!‘ ‚Runterschlucken!‘“ (Der Spiegel) schließlich irgendwann der Vorhang fiel, begleitet von Pfiffen und „Sellner raus!“-Rufen des Publikums (das hierbei wohl auch generellen Unmut gegenüber dem Intendanten äußern wollte).
Das andere Beispiel ist eine der ersten Regiearbeiten Peter Zadeks in der BRD, „Kapitän Bada“ von Jean Vauthier am Theater am Dom Köln 1958. Zadek selbst beschreibt die Ereignisse in seiner Autobiographie „My way“:
„Mein erster Theaterskandal in Deutschland. Ich hatte nämlich die Szene, in der die Ehefrau des Kapitän Bada ihn verlassen will und deswegen fragt: ‚Wo ist der Ausgang hier?‘, so inszeniert, dass sie es dreihundertmal wiederholte. […] Da war aber kein Ausgang. Beim 50. Mal fingen die Kölner an, sich zu ärgern, beim 100. Mal fingen sie an zu brüllen, und beim 150. Mal verließen sie mit Bemerkungen wie ‚Wir wissen sehr gut, wo der Ausgang ist‘ das Theater.“
Zeit kann im Theater durch Dehnung und Wiederholung also unaushaltbar werden, provokatives Mittel sein, dem Zeitgeist die Fratze zeigen.
Historische Beispiele für Theaterzeitreisen
Die vielfachen Chiffren sind bis heute etwa an einer Person wie Gustaf Gründgens ablesbar. Seine „Faust“-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus, bekannt durch die Verfilmung von Peter Gorski 1960, ist nämlich nicht nur Abbild der Theaterkonventionen damaliger Zeiten und gepflegter Schauspielkunst, sondern zeitigt eingeschrieben qua seiner Person wie Persona den Rückblick auf sein Verhalten in der NS-Zeit wie seine Arbeit im Nachkriegsdeutschland.
Ähnliches wäre auch über Bernhard Minettis Darstellung des Schauspiellehrers in Heiner Müllers legendärer Inszenierung von Bertolt Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (1995) zu sagen: Sehen wir zum einen traditionalistische Schauspielkunst (Minetti) im Spiegel zu postmoderner Spielweise (Martin Wuttkes Ui) und können gleichzeitig Minettis Vergangenheit als Spieler im Dritten Reich auf die Figur anwenden, die den Schauspiellehrer Hitlers darstellen soll, die Darstellung also als mit historischer Kenntnis bewandert beschreiben.
Zudem verbinden sich hier größere Zeitströmungen in der Gleichzeitigkeit der Inszenierung eines Stückes, das 1941 über Nazideutschland geschrieben wurde und dann Mitte der 1990er Jahre im wiedervereinten Deutschland aufgeführt wird, wobei Heiner Müller gleichzeitig als Künstler eines weiteren überwundenen Systems steht, nämlich der untergegangenen DDR.
Wider die Denkverbote
Die Frage, wie viel Zeit die Kunst braucht, kann um die Betrachtung, welche Zeit welche Kunst braucht – und vice versa – ergänzt werden. Von Gustav Klimt stammt der Ausspruch „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.“, der auf heutige Wokeness-Debatten passt: Die Übereifrigkeit von woker Cancel Culture ist ähnlich kunsteinengend wie die Wokeness-Feindlichkeit im reaktionären, rückwärtsgewandten Rausch einer überholten „L´art pour l´art“.
Allein die Werk-Autor-Debatte, also die Fragestellung, inwieweit das Oeuvre von der Vita und eventuellen Verfehlungen des Produzenten zu trennen ist, ist ein Diskurs, der von Einzelfall zu Einzelfall zu unterscheiden ist und ohne Denkverbote beider Seiten daherkommen sollte. Überhaupt ist die heutige Zensur Abbild einer Zeit, die sich selbst nicht mehr erträgt und dringend Befreiung aus den selbstangelegten Fesseln benötigt – aber wie?
Es braucht keine Zeitmaschine von H. G. Wells, keinen „Time warp“ der „Rocky Horror Picture Show“ und auch keinen DeLorean aus „Back to the future“, so wunderbar zugänglich diese Objekte beziehungsweise Rituale in der Kunst auch konstruiert wurden, um zu erkennen, wie sehr Zeiten aufeinander aufbauen, Strömungen sich wiederholen und eine Zeit als eine Warnung für eine andere gesehen werden kann.
Zeit für Krisen
Hilfreich aber im Erkennen von gewissen Zeitläufen wie im theatralen Bild ist nach wie vor Walter Benjamins Beschreibung des „Angelus novus“, der diesen als „Engel der Geschichte“ definiert, dessen Antlitz auf vergangene Zeiten als Katastrophen blickt und vom Sturm des Fortschritts in die Zukunft geweht wird. Ob diese verheißungsvoll sein wird, ist eher nicht anzunehmen, aber immerhin ungewiss.
Die vielfach beschriebene Kulminierung von Krisen, das Hamlet-Zitat von der Zeit, die aus den Fugen ist, der Sittenverfallsausruf „O tempora, o mores!“ sind Beschreibungsversuche, um Weltläufen zu begegnen und weiterzuleben. Aber im Angesicht der gesamten Historie kann man auch Adeline Dieudonné zitieren, die in „Bonobo moussaka“ ihre Protagonistin sagen lässt, dass sie sich an überhaupt keine Zeit ohne Krisen erinnern kann.
Bezogen auf das zeitgenössische Theater heißt das, dass Theater neben der übrigens nicht minder vornehmen Aufgabe, zu unterhalten, immer die Krisen der Welt gespiegelt hat, spiegelt und spiegeln soll, bestenfalls mit einer Verheißung, einer Utopie einer Anderswelt als Ausblick. Anderswelten aufzuzeigen, kommt derzeit vielleicht zu kurz. Oft sind es die erahnbaren oder schon bekannten Dystopien, die einmal mehr auf die Fehler der Systeme hinweisen.
Anderswelten statt Dystopien
„All systems fail“ – diese Redewendung, die einst aus der Technik kam, wurde unlängst für eine Retrospektive der bildenden amerikanischen Künstlerin und Filmemacherin Sarah Morris verwendet, die damit die Schwierigkeiten modernen Lebens beschreibt. Und er wurde auch von Harald Schmidt als Conclusio des Mottos seiner nächsten Spielzeitanalyse am Schauspiel Stuttgart ausgegeben. Diese ironische Erkenntnis hilft, wie Camus’ Sisyphos, den man sich ja als glücklichen Menschen beziehungsweise als Künstler vorstellen soll, weiterzumachen. Aber die Ewigkeit sich nie ändernder Zeitabläufe und der dadurch ständigen Desillusionierung kann nicht zufriedenstellen.
Unlängst gab es ein Gespräch mit einem Kollegen, in dem darauf verwiesen wurde, dass im Theatergebäude „immer in den Gängen Leute stehen“, die einen ängstigen. Dieser Satz schlich sich wenig später in eine Inszenierung ein, da er auf die Probensituation passte und in einen Monolog überführt werden konnte. Diese Vermischung aus Alltagsrealität und -kunst, Paratheatralität sozusagen, weist darauf hin, wie Systeme vielleicht neu gestartet werden können: Indem die Leute in den Gängen diese nicht verstellen, nicht angsteinflößend erscheinen, sondern Platz machen, Räume schaffen und Dialogpartner werden können.
Neue Dialogräume
Die Zeit, die im Theater ausgedehnt werden muss im Verarbeiten des Produzenten, die gefühlt unterschiedliche Längen beim Rezipienten bewirken kann, sollte vor allem gefüllt mit Ambiguität und Enigma, mit Verheißung und Utopie sein, um in den Dialog gehen zu können. Und um in diesem zu bleiben, um dem Alltag eine lebendige poetische Dimension zu verleihen. Das ist es schließlich, was Kunst zu jeder Zeit bewirken will.
Wieviel Zeit braucht also die Kunst, das Theater? Aus Cézannes Äpfeln im Stillleben sollte sie kein Apfelmus machen, wie es bei Wolf Wondratscheks Gedicht „An meine Mutter“ beinahe der Fall ist. Aber es sollte genügend Zeit sein, die Äpfel gereift in ein tableau vivant zu überführen: Um Vergangenheit, Vergegenwärtigung und Verheißung als Transformation sichtbar zu machen.
Boris C. Motzki, geboren 1980 in Worms, ist seit 2018/19 Schauspieldramaturg am Staatstheater Mainz und dort u.a. Kurator der Reihe „Literarisches Quartett“. Zudem ist Motzki freischaffender Regisseur, Autor (u.a. für die FAZ), Rezitator und Podcaster („Playspotting“ über Dramatiker:innen).