
Von Pragmatismus und Visionen
Foto: Der Haupteingang des Interims Spinnbau. © Kati Hilmer Text:Volker Tzschucke, am 1. Juli 2025
Seit 2021 ist das Schauspielhaus in Chemnitz sanierungsbedingt geschlossen. Schauspiel und Figurentheater nutzen seitdem einen ehemaligen Spinnereimaschinenbau als Interim. Nach langer Ungewissheit hat die Stadtverwaltung nun zwei Optionen präsentiert: Sanierung des alten Hauses oder ein Neubau an der aktuellen Interimsspielstätte.
Irgendwann wird’s auch den engagiertesten Theaterfreunden zu zäh: „In tiefer Sorge zur Zukunft unseres Schauspielhauses“ wendete sich der Vorstand des Fördervereins der Städtischen Theater Chemnitz Anfang Juni an den Oberbürgermeister der Kulturhauptstadt Europas 2025: „Seit Monaten beobachten wir, dass über die unterschiedlichsten Varianten verhandelt wird, dass Gutachten eingeholt werden und Kostenschätzungen die Runde machen, dass unterschiedliche Szenarien durchgespielt und auf ihre Realisierbarkeit hin geprüft werden.“ Gut 18 Monate hatte sich dieser Prozess hingezogen, in der aus der Verwaltung heraus weitestgehend Schweigen regierte. Ende Juni wurde das nun durchbrochen. Man werde dem Stadtrat vorschlagen, ein neues Schauspielhaus zu errichten – in einer durchaus überraschenden Variante.
Zur Historie des Schauspiels in Karl-Marx-Stadt
Nachdem das vorhandene Schauspielhaus im damaligen Karl-Marx-Stadt kurz vor der Premiere des umstrittenen Volker-Braun-Stückes „Tinka“ vollständig ausgebrannt war und abgerissen werden musste, wurde 1980 ein Neubau im zentrumsnahen Park der Opfer des Faschismus eröffnet. Dabei nutzte man vorhandene Infrastruktur, insbesondere den Saal eines benachbarten Altenheims. Die Leitung übernahm Hartwig Albiro, der das Chemnitzer Schauspiel zu einer Stätte formte, in der auch Kritik an den Verhältnissen des real-existierenden DDR-Sozialismus geäußert werden durfte.

Das sanierungsbedingt geschlossene Schauspielhaus Chemnitz. Foto: Dieter Wuschanski
Nicht umsonst durfte Albiro das Schauspiel nach der politischen Wende bis 1996 weiterführen und war bis zu seinem Tod am 31. Dezember 2024 eine geachtete Stimme im gesellschaftlichen Leben der Stadt. Die Loyalität des Chemnitzer Publikums zu seinem Schauspiel, die jüngst in einer Besetzung durch städtische Kulturakteure und in der Solidarisierung der bundesweit bekannten Rockband Kraftklub mündete, verdankt sich zuallererst dieser Ära.
Erweiterungen: Figurentheater und Studiobühne
35 Jahre Schauspiel – und zusätzlich integrierte Funktionen wie die Unterbringung des Figurentheaters, einer Studiobühne und das Herumdoktern an der Theatergastronomie – nagten an der Bausubstanz und der Funktionsfähigkeit des 1980 eröffneten Baus. Eine Planungsstudie für die Chemnitzer Innenstadt schlug 2016 die Errichtung eines neuen Schauspielhauses in der Nähe der historischen Oper (Spielstätte für Musiktheater und Ballett) vor, um zugleich über die Stadt verstreute Funktionalitäten wie Werkstätten, Fundus und Probebühnen zu zentralisieren und ein „Kulturquartier“ zu etablieren. Diese Idee fand sich auch 2019 im ersten Chemnitzer BidBook um den Titel der Kulturhauptstadt Europas 2025.
Der Spinnbau: Ausweichquartier auf Zeit?
Da bereits damals Kosten von bis zu 120 Millionen Euro veranschlagt wurden, sollte für das Kulturhauptstadt-Jahr zunächst das existierende Haus mit minimalinvasiven Eingriffen in Brandschutz und Elektrik für fünf Millionen Euro ertüchtigt werden. 2021 zogen Schauspiel und Figurentheater in die Räumlichkeiten eines ehemaligen Spinnereimaschinenbaus, der über einen großen Kultursaal, aber nicht über eine Vollbühne verfügte – für maximal 18 Monate, wie angekündigt war. Ein Bundesprogramm ermöglichte es dann, die Modernisierung des Schauspielhauses größer zu denken. Für 16 Millionen Euro sollten nun auch die Bedingungen für die Besucher verbessert werden. Geplanter Fertigstellungstermin: 2026.

Der Zuschauersaal im SPINNBAU. Foto: Nasser Hashemi.
Doch je tiefer man in die Substanz des Hauses eindrang, umso schwerer fiel die bauliche Verzahnung mit dem benachbarten Altenheim ins Gewicht. Die Prognosen für die Umbaukosten stiegen auf 34 Millionen Euro, eine Summe, die, so hieß es im Februar 2024, „zum gegenwärtigen Zeitpunkt finanziell nicht abgesichert“ sei. Dies bedeutete den Planungsstopp. Saniert oder gar neu gebaut worden war ohnehin noch nichts, während im Spinnbau improvisiert und in Gastronomie, Garderoben, einen Chorsaal und den Kostümfundus investiert wurde.
Stillstand führt zu Protesten
Der Sommer 2024 verging ebenso wie der folgende Herbst, Winter und schließlich das Frühjahr 2025. Die Theaterleitung um Generalintendant Christoph Dittrich, Schauspieldirektor Carsten Knödler und Figurentheater-Leiterin Gundula Hoffmann konnte ihren Frust ob der Interimssituation zunehmend schwer verbergen. Das Schweigen in der Stadtverwaltung dröhnte so laut, dass es von außen als Stillstand verstanden wurde und zu Protesten führte.
Am 26. Juni wurde nun offenbar: „Das Chemnitzer Schauspiel braucht eine Vollbühne“, leitete Kulturbürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky eine Pressekonferenz ein, bevor sie an die Herren vom Baudezernat übergab. Sechs Varianten habe man geprüft. Da das „Kulturquartier“ mittlerweile eher 200 Millionen Euro kosten würde und andere zentrumsnahe Gebäude sich nur schwer mit Theaterfunktionalität vereinbaren ließen, stehen nun zwei Varianten im Fokus: die Sanierung des alten Hauses für besagte 34 Millionen Euro, wobei manche Funktionen am ehesten in einem Anbau zu etablieren wären, der weitere 25 Millionen kosten könnte.
Potenzial und Wünsche
Oder ein Neubau an der aktuellen Interimsspielstätte, im Areal des Spinnereimaschinenbaus. Natürlich hänge man emotional am alten Haus, man müsse aber pragmatisch denken, so Intendant Christoph Dittrich. Wenn er sich frage, was am Interimsstandort fehlt – nachdem man Studiobühne, Figurentheater und Gastro ordentlich untergebracht habe – dann sei das vor allem die Vollbühne mit Bühnenturm fürs Schauspiel. Und dafür böte das Areal großes Potenzial: Im Hinterhof ließe sich ein Neubau für 400 bis 500 Zuschauer integrieren, dazu Parkplätze unter dem Zuschauerraum. Bestehende Werkstattgebäude ließen sich als Theaterwerkstätten umnutzen, auch für eine kleine Open-Air-Bühne wäre Platz. „Man könnte alle Theaterfunktionalitäten hier verorten, das ist ein großer Schatz“, ist sich Dittrich sicher. Und das Beste: Womöglich fänden hier auch Musiktheater und Ballett ein Interim in der nicht allzu fernen Zeit, wenn auch das Opernhaus größerer Sanierung bedarf. Einen Orchestergraben jedenfalls sollte man im Neubau mit einplanen, so Dittrich.
Zwar widerspricht die Idee der Entwicklungskonzeption für Innenstadt und Theater aus dem Jahr 2016, doch hat sie Charme: Das Areal des Spinnereimaschinenbaus ist zentrumsnah verortet, verkehrstechnisch gut angebunden und besticht durch seine Nähe zum Uni-Campus. Der alte Fabrikbau, ein „schlafender Riese“, würde endgültig zum Leben erweckt. Und ganz nebenbei rechnet die Verwaltung mit Kosten, die – ein Schelm, wer Böses dabei denkt – knapp unter denen für die Sanierung des alten Hauses liegen: 33 Millionen Euro. Im August oder September sollen die Varianten dem Stadtrat vorgelegt werden, um zu entscheiden, in welcher Variante weitergedacht wird.