Originalzeichnung der „Erdsee“-Weltkarte von Ursula K. Le Guin

Podcast: „Erdsee“

Spätestens seit Corona finden Podcasts bei uns ein breites Publikum. Der Begriff meint schlicht „Hören in Serie“, sei es als Feature- oder Dialogformat zu bestimmten Themen oder auch als klassisches Hörspielreihe. Eine solche ist „Erdsee“, die der WDR-Sender 1LIVE über den Oktober als Uraufführung ausstrahlte – umwerfendes Theater für die Ohren.

Der Sechsteiler basiert auf einer Romanreihe der 2018 verstorbenen Science-Fiction- und Fantasy-Autorin Ursula K. Le Guin. Sie schrieb ihre bis heute bekanntesten Bücher, neben der „Earthsea“-Trilogie die SF-Romane „The Left Hand of Darkness“ und „The Dispossessed“, Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Zumindest in den USA galt sie lange auch als Nobelpreis-Kandidatin. „Erdsee“ ist bekennende Fantasy, ein Genre, das damals noch in den Kinderschuhen steckte und unter Literaten bis heute keinen guten Ruf hat. Der Grund dafür ist, dass die Prämissen der Genre-Romane meistens sehr ähnlich sind: Entweder bringen ein oder mehrere Individuen aus Gier und Hass eine Welt aus dem Gleichgewicht und in der Regel scheinbar schwache Figuren stellen in erster Linie mittels Empathie dieses Gleichgewicht wieder her („Herr der Ringe“ bis „Harry Potter“), obwohl dieser Prozess die Welt verändert. Oder es findet ein ewiger Krieg um die Macht statt, mit ausgedachten sowie mittelalterlichen Mitteln (prominentestes Beispiel: „Game of Thrones“).

Fantasy-Welt ohne Kriege und Idyllen

„Erdsee“ ist insofern eine Ausnahme, als dass die positive Hauptfigur, der Magier Sperber, als junger Mensch selbst aus Ehrgeiz und Eitelkeit fast seine Welt aus der Balance bringt, also Narben trägt, die er sich selbst zugefügt hat. Zudem lebt er in einer Welt, in der es keine Kriege gibt, während geradezu buddhistische Zurückhaltung und unter die Oberfläche dringendes Wissen echte Ideale sind. Dies wird dadurch symbolisiert, dass einen Menschen oder ein Ding beherrschen kann, wer dessen „wahren Namen“ in einer alten, fast vergessenen Sprache kennt. Das dritte Kriterium, das Le Guins Roman von fast allen anderen Genre-Hervorbringungen unterscheidet, ist der fast vollkommene Verzicht auf Niedliches, Idyllisches und Pittoreskes. Selbst das hamsterartige Tierchen, das dem Magier zuläuft, überlebt keine zwei Folgen.

Diese „Erdsee“-Welt wird von Jörg Schlüter in großartiger Weise belebt. Er ist dem Mülheimer Theater an der Ruhr seit etlichen Jahren beruflich verbunden und gilt als renommierter Hörspiel-Regisseur, wenn auch nicht als Gigant der Szene wie Walter Adler, Klaus Buhlert oder Leonhard Koppelmann, der bekanntlich auch immer wieder am Theater inszeniert. Diese drei Regisseure besetzen gerne prominente Schauspieler, die ihre eigenen Sprech- und Gestaltungsweisen bewusst einbringen sollen, so dass häufig ein von der Regie hauptsächlich durch Textfassung und Besetzung gesteuertes Kaleidoskop entsteht.

Authentische Stimmen

Schlüters „Erdsee“ hingegen zeichnet sich durch durchgängig unaffektiertes, fast möchte man sagen: dienendes Sprechen aus. Hier geht es um Fluss und Klarheit. Abgründe und Fallhöhen entstehen aus gezieltem Umgang mit Tempo und Dynamik und den authentischen Klangfarben der Stimmen der größtenteils am Theater sozialisierten Schauspieler. So teilen sich Aram Tafreshian (bis 2020 Ensemblemitglied am Maxim Gorki Theater) und Steffen Reuber (Ensemblemitglied am Theater an der Ruhr) in die Hauptfigur Sperber, Robert Dölle (Residenztheater München) gibt zum Ende hin einen starken Antagonisten und Andreas Grothgar aus dem Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses und Bernd Kuschmann (einst Protagonist des Wuppertaler Schauspiels) haben sehr kurze, sehr einprägsame Auftritte als Erzmagier, sozusagen als Dumbledores ohne malerische Bärte und jedes andere ChiChi. Aus dem restlichen großen Ensemble müssen unbedingt Petra van der Beek als eisenharte Priesterin, Karmela Shako als verwirrend androgyne Anführerin eines Floß-Volks und Heinrich Giskes als drogensüchtiger Ex-Magier erwähnt werden.

Tatsächlich entsteht vor dem inneren Auge eine erfüllte Landschaft, freut man sich an hellen, warmherzigen Momenten, glaubt manchmal auch, etwas besser zu wissen als die Handelnden, bleibt aber immer dabei, will unbedingt erfahren, was mit dieser Welt und dem Protagonisten geschieht. Der Schluss ist dann gleichzeitig Enttäuschung und Apotheose (mehr soll nicht verraten sein).

„Erdsee“ ist im sogenannten „3D-Audio“-Format aufgenommen, eigentlich also für ein Hören mit Kopfhörer konzipiert, lässt sich aber auch im Raum sehr gut hören, mit durchaus spektakulären Sound-Effekten. Vergleicht man „Erdsee“ mit der ersten großen „3D-Audio“-Hörspielserie, der nicht wirklich überzeugenden RBB-Produktion „Der Ring des Nibelungen“ nach Wagner (HIER nachzuhören) aus dem Frühling dieses Jahres, zeigen sich noch einmal die Vorzüge des Sechsteilers: Straightes, sinnliches Erzählen, uneitles Sprechen unverbrauchter Stimmen, kluge Dramaturgie, entschlossener Zugriff bei sensibler Gestaltung.

„Erdsee“ nach Ursula K. Le Guin, Bearbeitung: Judith Adams, Musik: Verena Guido, Regie: Jörg Schlüter. Sechs Teile a circa 40 Minuten, Erstendung ab 1. Oktober 2022 bei WDR-1LIVE. Der Podcast ist auf allen gängigen Plattformen verfügbar. HIER geht es zu einer Auswahl davon. Unter anderem in der ARD-Audiothek ist die Serie kostenfrei zu hören.