Cover Helene Hegemann: „Schlachtensee“

Buch: Helene Hegemann: „Schlachtensee“

Ihre Welten sind immer schmutzig, verdorben, verkommen – und trotzdem von abgründiger, schwer zu fassender Schönheit. Da ist nie ein Glaube an das Gute, eher an das Ende und, vielleicht, an die Kraft der Natur als Ur-Erlebnis, mahnend erhobener Zeigefinger und schönste und wichtigste aller Gefahren. So war es in Helene Hegemanns Anfängen, bei ihrem Debüt-Theaterstück „Ariel 15“ (2007, da war sie 15) und in ihrem Debüt-Roman „Axolotl Roadkill“ (2010), in „Musik“ nach Wedekind, 2013 von ihr inszeniert an der Kölner Oper und auch in den Theaterversionen ihres Romans „Bungalow“ in Düsseldorf (2019) und Hannover (2022).

Jetzt ist ein neuer Prosaband erschienen. „Schlachtensee“ versammelt 15 Prosa-Texte, von drei bis knapp 60 Seiten Länge und wird sich wahrscheinlich nicht auf der Theaterbühne wiederfinden, obwohl die dramaturgische Zurichtung, die nie penetrant daherkommende dramaturgische Verklammerung der Texte Theaternähe atmet.

In „Bungalow“ waren Hegemanns Einblicke, Erfahrungen, Erkenntnisse und Betrachtungen in all ihrer Fülle konzentriert auf eine Wohnung in einer Siedlung, „Schlachtensee“ erforscht die Welt dagegen im topographischen Sinne. Wir sind im 72. Stock in New York und in kleinen Holzhäusern in Kanada, in der österreichischen Provinz, im ägyptischen Upper-Class-Hotel oder in einem schmutzigen russischen Fluss. Alle diese meist jungen Menschen sind furchtbar lebenshungrig und verloren, Idyllen gibt es nur für kurze Zeit, wirkliche Familien gar nicht, nur Verlassene, die verzweifelt versuchen, eine zu sein oder zu werden. Und, wie immer bei Hegemann, dominieren Sex, Drugs and Rock’n Roll, suchen die jungen Menschen die große Ablenkung im möglichst überlebensgroßen Genuss.

Das Interessante: Die Existenz dieser Menschen mit den merkwürdigen Namen wie Ketti oder Tschlix (die sind vermutlich sogar identisch), Jacoby und Abdellatif, Minute und Indigo, beschränkt sich nie auf einen einzigen Text. Ihr Lebenshunger scheint den Rahmen der einen Erzählung zu sprengen, die Autorin zu zwingen, sie wiederauftauchen zu lassen. Manchmal haben sie sich dann aus dem Elend herausgearbeitet, beispielsweise als Kunstsachverständiger mit internationalem Renomee, manchmal bricht aber auch die Fassade zusammen wie bei der Werbeikone, die es im heimatlichen Österreich einfach nicht schafft, an der richtigen Station aus dem Zug zu steigen.

Alle Texte bieten große Bilder, aus denen man sich eigene Geschichten bauen kann, sehen unsere Welt im internationalen Maßstab klar, aber pessimistisch verzerrt und verlieren sich immer wieder mal in der Schilderung der, gerne gleichgeschlechtlichen, körperlichen Begierde als Schutzschild gegen die Verlorenheit. Hier liegen Glanz und Elend der Künstlerin Helene Hegemann eng nebeneinander: Sie verfügt wie wenige Autor:innen heute über eine eigene plastische und sinnliche Sprache, die auch noch unforciert jung daherkommen kann und mit der Fähigkeit gesegnet ist, im treffsicheren, fies-abgründigen Witz zu kulminieren. Aber all das ist offensichtlich dabei, zur Masche zu gerinnen. Helene Hegemann ist in diesem Jahr 30 geworden, hält sich aber mit der Gestaltung ihre Weltsicht und ihrer Sprache an der Adoleszenz fest, will die wilden Jahre, mit denen sie ihre, euphemistisch gesprochen, wohl nicht vollkommen glückliche Jugend verarbeitet, offensichtlich zumindest literarisch so lange verlängern, wie es irgend geht. Und das führt zu wenigen, abgestandenen Momenten, gerade dann, wenn sie sich, vielleicht gar nicht mit Absicht, kleine, hochgebildete, meistens cool herausgeschnodderte Sentenzen gestattet, die ihre Figuren für Momente wirken lassen wie aus der Zeit gefallene Beatniks.

Spannend wird es da, wo Elend gestaltet wird, das ganz selten ökonomisch bedingt ist, denn alle Figuren können etwas wirklich gut, beispielsweise Online-Poker oder sie haben oder finden, immer jemanden, der bezahlt. Wenn diese vom Aufgehobensein träumenden Märchenbilder, die sich ja auch durch Hegemanns Schriften ziehen, auf große, den Leser wirklich anfassende, weil nicht selten überraschende Bedrohungen treffen, ist die Autorin genauso bei sich, wie bei der durch leichthändige Verzerrung kenntlichen Schilderung des internationalen Wirtschaftslebens. So ist „Schlachtensee“ auch ein Bekenntnis zur Internationalität oder besser: zur Verkommen- und Verlorenheit der kompletten, zu oft so genannten „zivilisierten Welt“. Diesem Blick zu folgen, lohnt sich sehr, obwohl der Wunsch nach ein ganz klein wenig erzählerischer Abgeklärtheit im Lauf der Lektüre nicht kleiner wird.

Helene Hegemann: „Schlachtensee“ umfasst 15 „Stories“ auf 264 Seiten und ist am 9. Juni bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Es ist unter der ISBN 978-3-462-00168-6 als gebundenes Buch (für 23 €) oder als E-Book (für 19,99 €) im Buch- und Online-versandhandel erhältlich. Eine kostenfreie Leseprobe gibt es HIER.