Fünfzehn-Stunden-Tanzparcours

Im Rahmen des Festivals Tanz Moderne Tanz und im Rahmen der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 bot „Odyssee in C” eine Tanz-Entdeckungsreise quer durch die Stadt. Von 8 bis 23 Uhr bot das Spektakel an 18 Stationen motivische Kurzchoreografien nach „Ulysses” von James Joyce. Unser Autor hat sich dem Parcours ausgesetzt.

In fünfzehn Stunden an vier Tagen stellte Sabrina Sadowska den Outdoor-Parcours des Festivals Tanz Moderne Tanz für das Kulturhauptstadt-Jahr unter ein außergewöhnliches Thema: Das unter Leitung der Chemnitzer Ballettdirektorin gestaltete Großprojekt war eine offene Paraphrase von James Joyce‘ Roman „Ulysses“ über den 16. Juni 1904 in der irischen Hauptstadt Dublin. Darin schilderte Joyce in 18 Kapiteln die Stadt und das Leben aus der sprunghaften Perspektive des Anzeigenverkäufers Leopold Bloom. Einladungen zur Mitgestaltung gingen an internationale Kompanien, welche auch mit Gastspielen auftraten. Sie erhielten für „Odyssee in C“ je ein Kapitel von „Telemachos“ bis „Ithaka“ in chronologischer Parallele zum Roman und für einen Aufführungsort im Stadtraum Chemnitz zugeteilt.

Homers Epos: Von Irrfahrten und Heimkehr

Weil Joyce sich symbolisch und inhaltlich immer auf Homers Epos bezieht, setzte die tänzerische Gestaltung Analogien zur altgriechischen Mythologie über Irrfahrten und Heimkehr – vom Beginn in der Markersdorfer Oase bis zum optimistischen Finale im Opernhaus mit dem Ballett Chemnitz.

„Ich wünschte mir synergetische und kontextuelle Bezüge zwischen Idee, Inhalt und urbanem Ambiente“, sagte Sabrina Sadowska, die mit Kapitel 9 „Scylla und Charybdis“ in der Unibibliothek ein Schultanzprojekt beisteuerte. Ausnahmslos entwickelten alle Kompanien narrative Konstrukte. Cie Ex Nihilo aus Frankreich verwendete bei der Markthalle leere Flaschenkästen. Das renovierte Backstein- Schmuckstück ist nur zum Teil vermietet, wird aber nicht für den ursprünglichen Bestimmungszweck genutzt. Das Gelände am Fluss Chemnitz unweit der Innenstadt wirkt fast wie ein toter Ort. Zu E-Gitarrenklängen wirft sich Cie Ex Nihilo in sehr bewegte Interaktionen und erfüllt den Platz mit pulsierendem Leben.

Cie Ex Nihilo (Frankreich) tanzen zum 8. Kapitel Laistrygonen an der Markthalle Chemnitz. Foto: Nasser Hashemi

Cie Ex Nihilo (Frankreich) tanzen zum 8. Kapitel Laistrygonen an der Markthalle Chemnitz. Foto: Nasser Hashemi

Stadtschwimmbad als Tanzraum

„Während der Vorbereitung auf die Kulturhauptstadt 2025 wurde im Stadtbild vieles optimiert, was Ortsfremde nicht bemerken“, sagt Sadowska. Sie zeigt noch immer einen gewissen Stolz darauf, dass sie das im „Lottophagen“-Kapitel vom Ballett Chemnitz bespielte Stadtschwimmbad für das Festival als Theater- und Tanzraum entdeckte. Von dort konnte Sadowska die topographischen und sozialen Tanzbewegungen in Chemnitz verdichten. „Das seit der Wiedervereinigung im Schatten der anderen sächsischen Großstädte Dresden und Leipzig stehende Chemnitz versteht sich als Industrie- und Sportstadt. Mit genau dafür ausgewählten künstlerischen Ausdrucksmitteln wollte ich auf diese essenziellen Säulen der lokalen Identifikation eingehen.“

Zudem versucht Sadowska in konstruktiver Provokation die positive Auseinandersetzung mit den Vergangenheiten der „Stadt der Moderne“: „Zu DDR-Zeiten durfte die bourgeoise Gründerzeit keine Bedeutung haben. Nach der Wiedervereinigung schwand die Bedeutung als Industriezentrum. Das sind zwei tiefe Wunden, welche trotz kultureller Diskurse in der Identitätsbildung heute noch nachwirken“, sagt die gebürtige Schweizerin Sadowska, die langfristig ein Tanzzentrum Chemnitz plant.

Tanz neben Industrievergangenheit

Aber die „Odyssee“-Stationen sind in Entsprechung zum Kulturhauptstadt-Motto „see the unseen“ neben idyllischen Inseln am Schlossfriedhof, auf der Schlossteichinsel und im Opernhaus auch Wegweiser zu urbanen Wunden: Bis zur Wiedervereinigung war der Brühl ein in der DDR vorbildliches Ladenzentrum, dessen Niedergang sich parallel zur Inbetriebnahme des neuen Geschäftszentrums um den Roten Turm vollzog. Heute bemerkt man um die Rosa-Luxemburg-Grundschule Ansätze zur Wiederbelebung durch Cafés und kleine Geschäfte.

Der Beitrag dort von Le Plus Petit Cirque du Monde war akrobatisch orientiert wie die Menschensäule von Cie Retouramont auf dem vor allem als Firmenparkplatz genutzten Gelände des Staatlichen Museums für Archäologie Chemnitz (SMAC). Das sanierte Fabrikgelände Wirkbau, ein weiterer Ort der großen Industrievergangenheit, wurde für „Nestor“ von Panama Pictures aus den Niederlanden auf einem zwischen zwei Gebäuden hängenden Lattennetz bespielt.

7. Kapitel - Äolus, im Hof von Hof von Smac und „Freie Presse“ mit Cie Retouramont (Frankreich). Foto: Nasser Hashemi.

Das 7. Kapitel Äolus, im Hof von Smac und „Freie Presse“ mit Cie Retouramont (Frankreich). Foto: Nasser Hashemi.

An einem einzelnen Tag war auch für sportives Publikum nicht jede Station zu schaffen. Am Morgen fanden je zwei der ersten sechs Tanz-Kapitel gleichzeitig statt. Außerdem reichten die Zwischenzeiten oft nicht zum Erreichen der nächsten Station. Insgesamt fiel sehr positiv auf, dass die Altersstruktur der eingeladenen Kompanien oft mehrere Generationen umfasst. Wie aus Mythos und Literatur ganz starke und äußerst unterschiedliche Kreationen zwischen Tanztheater und Breakdance erwachsen, zeigten vor allem zwei Beiträge:

Karl Marx schaut zu

„Kyklop“ wurde vor dem Karl-Marx-Monument ein diabolisch-dialektisches Statement gegen Rassismus. Vier Tänzer:innen der häufig soziale Konflikträume darstellenden Company Chameleon aus Manchester attackierten sich mit massiver Körperlichkeit. Sie sprangen sich an, nahmen sich in den Schwitzkasten, rollten und robbten über die Platten des Platzes. In zwanzig Minuten offenbarte sich eine artistisch-emotionale Kausalspirale von Aggressionsakkumulation, Zuschreibungszündstoff, Gewalteskalation und herausbrechender Wut. Unter dem strahlend blauen Sommerhimmel schien der Kopf von Karl Marx vor der abweisenden Gebäudefront wissend und zynisch zu lächeln.

„Es muss allen Spaß machen“, sagt Sadowska über ihre Projekte und Pläne am Theater, mit der Tanz-Community und dem Publikum. Am Premierentag der „Odyssee in C“ kamen bereits um 8.00 Uhr morgens dank des funktionierenden Tanznetzwerks, das vom Ballett aus begann und in seinem Tanzbüro eine eigene Dependance hat, etwa 50 Personen zur Fleischerei Thiele auf dem östlich des Hauptbahnhofs gelegenen Sonnenberg. Nuepiko Dance Company aus Litauen zeigte junge Menschen in sandfarbener Sommerkleidung. Als Passanten gingen sie aneinander vorbei. Später flirteten sie und stolperten ohne ernsten Schaden in das nächste Alltagsabenteuer. In dieser anspruchsvollen, virtuosen und dabei leichtsinnig-emotionalen Idylle begann die Tanz-„Odyssee“ mit einem harmonischen Sommermärchen. Die ernsten und essenziellen Fragen kamen später, bis das Ballett Chemnitz die Odyssee im Opernhaus mit Edith Piafs Hymne „Je ne regrette rien“ unter einem Beifallsorkan des Publikums beendete.