Filmplakat „Elfriede Jelinek – die Sprache von der Leine lassen“

Kino: „Elfriede Jelinek – die Sprache von der Leine lassen“

Ein neuer Dokumentarfilm beschäftigt sich mit dem Leben und der Kunst von Elfriede Jelinek. Wer hinschaut und zuhört, könnte einen neuen Zugang zum Werk der Literatur-Nobelpreisträgerin finden, die auf deutschen Bühnen so oft gespielt wird wie wenige lebende Autor:innen. Die Filmemacherin Claudia Müller hat eine erstaunliche Menge von filmischen Selbstzeugnissen ihrer eigentlich doch medienscheuen Protagonistin Elfriede Jelinek zusammengetragen. Und sie hat deren Sprache herausragenden Sprecher:innen anvertraut, die nachweisen, dass es hier um ein Genie der Sprachverwendung geht: Sophie Rois und Stefanie Reinsperger, Sandra Hüller und Martin Wuttke, Ilse Ritter und Maren Kroymann stützen nicht nur die Geschichte. Man wird fast süchtig nach dieser Sprache, ihrer Poesie, nach der Genauigkeit, mit der sie dem Leben abgelauscht wurde. Aus diesem Material destilliert Claudia Müller mit „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ die Erzählung einer dreifachen Traumatisierung, die tragische Wucht entfaltet.

Drei Traumata

Zunächst erzählt Elfriede Jelinek größtenteils selbst von einer fürchterlichen Kindheit in der Steiermark, von der Mutter, die sie in eine extrem streng geführte Klosterschule steckt und versucht, ein musikalisches Wunderkind zu züchten („Ich habe mich im Grunde genommen in die Sprache gerettet, weil das die einzige Kunstform war, die meine Mutter nicht gefördert hat“); vom Vater, ein Chemiker teilweise jüdischer Abstammung, der den Nationalsozialismus aufgrund seines „kriegswichtigen“ Berufs unbeschadet überstand, erkrankt in ihrer frühen Jugend und ist 1969 an seiner Geisteskrankheit gestorben.

Danach zeigt der Film wie im Zeitraffer Elfriede Jelineks Emanzipation, die Entwicklung einer eigenen gesellschaftspolitischen Sicht- und künstlerischen Arbeitsweise („Ich zeige meine Figuren nicht als Handelnde, sondern als Ausgelieferte. Ich weise nach, dass es den Freiraum des Handelns nicht gibt“). Schnipsel aus Fernsehsendungen belegen, dass die erfolgreiche junge Romanschriftstellerin in Österreich zunehmend bekannt wird. Diese Entwicklung wendet sich mit der Uraufführung ihrer Posse mit Gesang „Burgtheater“ (uraufgeführt 1985 in Bonn) von einem auf den anderen Tag gegen sie. „Da habe ich meinen guten Namen verloren. Damit hatte ich nicht gerechnet“, umschreibt Jelinek den Verlust ihrer mühevoll erarbeiteten Selbstgewissheit. Ihr Stück über die Verstrickung prominenter (Burg-)Schauspieler ins Nazi-Regime traf offensichtlich eine Art blinden Fleck in Österreich. Die Zusammenstellung von seinerzeit auf der Straße eingefangenen Stimmen suggeriert den Hass eines ganzen Landes. Man wollte sich nicht mit der jüngeren Vergangenheit beschäftigen, nicht bei Kurt Waldheim, nicht bei Paula Wessely.

20 Jahre später fand sich Elfriede Jelinek dann offenbar anlässlich der Nobelpreisverleihung 2004 noch einmal, und stärker als jemals zuvor als Ziel einer Hasskampagne wieder. Mit dieser setzt der Film ein und zeigt über 96 Minuten: Die Schönheit, die Elfriede Jelinek trotz allem in früheren Dokumenten immer ausstrahlt, hat seit 2004 Risse bekommen, die wohl nicht mehr heilen werden. Damals verabschiedete sie sich vom sozialen Leben, geht seitdem so gut wie nicht mehr vor die Tür und schreibt wie eine Getriebene fürs Theater, Genietaten wie „Am Königsweg“, neues Material für österreichische Skandale wie „Rechnitz“, 20 Stücke in 18 Jahren. „Ich erkläre nichts mehr. Ich schreibe mich in die Texte mitten hinein. Das ist mein einziges Sprechen. Wenn man seine eigenen Sachen erklärt, schwächt man sie.“

Verstehen lernen

„Elfriede Jelinek – die Sprache von der Leine lassen“ weckt großes Interesse und noch mehr Empathie für seine Protagonistin. Die Haltung Österreichs und der Österreicher:innen wird nicht explizit kommentiert und wirkt dadurch umso stärker. Mit Jelineks Biografie wird durchaus selektiv vorgegangen. Aber ihre Themen klug strukturiert erschlossen, durch die erwähnten treffsicher kompilierten Selbstzeugnisse und hervorragend gesprochenen Originaltexte; durch lange Kamerafahrten, etwa bei den Ruinen in Rechnitz; durch umwerfende Ausschnitte aus der von Einar Schleef 1998 am Burgtheater inszenierten Uraufführung von „Ein Sportstück“; durch kurze, wilde Collagen wie beim Aprés-Ski in Ischgl oder durch deprimierende Sequenzen aus dem antisemitischen Nazi-Machwerk „Heimat“. Man wird Österreich nicht unbedingt mehr lieben, hinterher, aber möglicherweise den Menschen, die Künstlerin Elfriede Jelinek besser verstehen. Und das lohnt sehr.

„Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“, Regie. Claudia Müller, produziert von Cala Filmproduktion GmbH und Plan C Filmproduktion OG, ist ab 10. November 2022 in ausgewählten Kinos zu sehen. Weitere Informationen und den Trailer gibt es HIER, auf der Produktionsseite von farbfilm✭verleih.