„Einfach das Ende der Welt" am Schauspielhaus Zürich mit Benjamin Lillie, Maja Beckmann, Wiebke Mollenhauer und Nils Kahnwald

Das Theater trifft sich 2021

Die Auswahl zum Berliner Theatertreffen ist veröffentlicht. Wie jedes Jahr wurden die zehn vermeintlich bemerkenswertesten Inszenierungen aus der deutschsprachigen Theaterlandschaft von einer Kritikerjury ausgewählt. Also alles wie immer?

Die – meist nicht ganz unberechtigte – Nörgelei über die Auswahl gehört genauso zum Theatertreffen wie das dezente Selbstlob der ausgezeichneten Häuser nach der Bekanntgabe. In diesem Jahr war jedoch nicht so sehr die Frage, welche Inszenierung fälschlicherweise nicht berücksichtigt würde, sondern die, wie die Jury denn in der extrem ausgedünnten Theaterrealität der Jahre 2020 und 2021 fündig werden solle. Sie fand! Und alles in allem kann man sagen: Die Auswahl dürfte weniger streitbar sein als die Jahrzehnte zuvor. Alle Theaterinteressierten können froh sein, dass in der Auswahl überhaupt sehenswertes Theater mal zehn zusammenkommt – und das scheint tatsächlich gelungen.

Die Mehrzahl der Inszenierungen, nämlich fünf, stammt aus dem Hebst 2020, als die Pandemie – scheinbar –  pausierte und die Theater unter strengen Vorgaben und für etwa ein Viertel des Publikums geöffnet waren. Darunter ist auch die großartige Inszenierung Karin Beiers von Rainald Goetz‘ größenwahnsinnigem Dramenepos „Reich des Todes“ Bei der Premiere wirkte das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg im Parkett erschütternd ausgebeint; auf der Bühne hingegen spielte ein großes und großartiges Ensemble, als gäbe es kein Corona. Diese Inszenierung ist übrigens auch zu den Mülheimer Stücken eingeladen. Diese kleine Schwester des Theatertreffens hat vor einigen Tagen die diesjährige Auswahl bekanntgegeben. Hier ist die enge Verbindung von großen Stücken und von Jungem Theater bemerkenswert. Und hier spielen digitale Formate in der Auswahl eine eher geringere Rolle. Die Pandemie ist in Mülheim auch thematisch in den ausgewählten Stücken kaum sichtbar; angesichts der Fixierung des Wettbewerbs auf neue Theatertexte auch wenig verwunderlich.

Zwei Inszenierungen beim Theatertreffen sind im Februar 2020 vor den Auswirkungen der Coronakrise in Mitteleuropa entstanden, nämlich „Graf Öderland“ aus Basel sowie „Scores that shaped our Friendship“ vom freien Theater schwere reiter in München. Die Leistung der beiden Performer Ludy Wile und Pawel Dudus wurde bereits im November mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST für die Darstellung im Bereich Tanz ausgezeichnet.

Die drei übrigen Inszenierungen stammen aus der Zeit des Theaterlockdowns. Gob Squads 12-Stunden-Stream „Show me a good Time“ zählt zu den frühen Streams, die auf die Kulturkrise direkt eingehen, einschließlich erster digitaler Kinderkrankheiten in der Umsetzung bei der Premiere. Sebastian Hartmanns „Der Zauberberg“ vom konnte im zweiten Lockdown nur noch als Live-Stream im leeren Deutschen Theater stattfinden, die Premiere vor Publikum steht aus. Und Christopher Rüpings Zürcher „Einfach das Ende der Welt“ konnte unter Schweizer Verhältnissen auch im Dezember noch vor reduziertem Publikum stattfinden und wurde gleichzeitig gestreamt. Thematisch und ästhetisch befasst sich diese Inszenierung – die mich von den Einladungen, die ich bisher nicht gesehen habe, am meisten interessiert –  mit Videokunst und menschlicher Entfremdung. Das Deutsche Theater Berlin, in den letzten Jahren eher ein seltener Gast beim Theatertreffen und das Schauspielhaus Zürich sind mit jeweils zwei Inszenierungen eingeladen und somit „Gewinner“ der Auswahl,

Eine Darstellerin in „Einfach das Ende der Welt“ aus Zürich ist Maja Beckmann. Und sie ist auch in Leonie Böhms „Medea*“ die (einzige) Hauptdarstellerin, also so etwas wie eine heimliche Gewinnerin der Auswahl. Dass starke Darstellerinnen glücklicherweise trotz Verstreamung künstlerisch das Theater weiter prägen können ist somit eine positive Lehre aus der Auswahl für 2021. In „NAME HER“ vom Ballhaus Ost in Berlin ist Anne Tismer die alleinige Protagonistin. Überhaupt die Frauen: Feministische Fragen sind in zahlreichen Produktionen ein bestimmendes Thema der Inszenierungen – auch in der streng mit „Abstand“ spielenden „Maria Stuart“ am Deutschen Theater und in Barbara Freys Burgtheaterinszenierung von „Automatenbüffet“ sind Frauen die Heldinnen. Die Regiefrauenquote ist in der Auswahl wieder übererfüllt, fünf Regisseurinnen sind dabei, dazu zwei gemischte Regieteams; man(n) hat nicht den Eindruck, dass damit künstlerische Abstriche verbunden wären.

Wie aber das Theatertreffen 2021 – und ebenso die Mülheimer Theatertage 2021 – im Frühsommer stattfinden können, bleibt abzuwarten. Hoffen wir, dass es nicht beim digitalen Treffen bleibt. Berlin wäre in diesem Jahr wirklich mal wieder eine Reise wert.