Das Figurentheaterfestival IMAGINALE

Die deutsche Figurentheaterszene ist gut vernetzt. Neben vielen regionalen Festivals, und solchen, die Spezialgenres wie Schattenspiel ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, gibt es mindestens sechs große internationale Begegnungen: etwa die Synergura in Erfurt, Blickwechsel in Magdeburg, Fidena in Bochum, in Erlangen-Nürnberg, München und die Imaginale in Stuttgart. Da die Auswahlmöglichkeiten unter den internationalen Gruppen nicht endlos sind, unterscheiden sich die Festivals in ihren Schwerpunktprogrammatik nur partiell. Natürlich schlagen sich Vorlieben der Macher in der Auswahl der Gruppen nieder, sowie eine gewisse Entdeckerneugierde, die junge Nachwuchstruppen nicht nur aus Berlin (Ernst Busch Schule) oder Stuttgart einlädt.

Vernetzung zwischen Berlin und Stuttgart

Was die Imaginale betrifft, ist eines ihrer Merkmale, dass sie Veranstaltungsorte in der Region miteinbezieht. Aus einem Pool von 35 ausgewählten Produktionen können neben Stuttgart auch Mannheim, Heilbronn, Eppingen, Ludwigsburg und Schorndorf Aufführungen auswählen, wobei jeder Ort eigene Schwerpunkte setzt. Für die als Biennale seit 2008 existierende „Imaginale“ organisiert ein Team um Katja Spieß und Christian Bollow das Programm. Traditionell liegt dabei ein Schwerpunkt auf der französischen Figurentheaterszene, sowie auf Grenzüberschreitungen in andere Genres wie Tanz, neuer Zirkus oder digitale Formen. 2023 kommt hinzu, dass die Institution, das „FITZ – das Theater animierter Formen“  – Träger des Festivals in Stuttgart – in diesem Jahr vierzig Jahre alt wird und darüber hinaus auch der Studiengang Figurentheater an der Hochschule für Musik Stuttgart das Schwabenalter erreicht. Zwischen beiden Institutionen bestehen enge Verbindungen, wie sich auch am Diskurstag über „Die Kunst lebendig zu machen“, also den Vorgang der Animation, zeigte. Unter anderem sprach Laurette Burgholzer über die unterschiedlichen Methoden der Animation in der französischen Ausbildung, die sich sehr stark an pantomimischen Grundübungen auszurichten scheinen.

Für Kinder: „Nightlight“ und „Wenn Ferdinand nachts schlafen geht“

Als Leitfaden für die diesjährige Festivalausgabe gab das Team vor, „Geheimnis- und Erlebnisräume“ zu schaffen. Das dem Vorwort im Programmheft beigegebene Zitat von Hartmut Böhme: „Wir benötigen zum Leben das Dunkel und die Nacht so elementar wie das Geheimnis, das Leben erst lebenswert macht.“, wird eingelöst. Wenn Andy Manley in Kooperation mit dem Teater Refleksion im immer dunkler werdenden Raum die Dinge zum Tanzen bringt, Schränke geheimnisvoll aufleuchten, eine Kinderstimme fordernd zu hören ist, bis es dann wieder tagt und der Mann erschöpft zum Schlafen kommt: Was das Publikum in „Nightlight“ erlebt, ist eine wunderbare Reise durch das Dunkel. Auch in „Wenn Ferdinand nachts schlafen geht“ erzählen mit Papier und Schere, von dem viel zu früh verstorbenen Joachim Torbahn zugeschnitten, Kathrin Blüchert und Tristan Vogt in der Regie von Iwona Jera eine geheimnisvolle Gutenachtgeschichte: Ferdinand will nicht schlafen. Um ihn endlich ins Bett zu bekommen, verwandelt die Katze die Dinge des Raums. Die Kommode wird zum Monster, das Bett löst sich auf, ein Fisch schwimmt durch den Raum, bis dann am Ende die Katze ihr Ziel erreicht und Ferdinand ins Bett geht. Während Vogt die Geschichte erzählt und auf dem Akkordeon begleitet, formt Blüchert die ausgeschnittenen Teile auf das Glas eines Bildwerfers in immer neuen Kombinationen zusammen.

„Wenn Ferdinand nachts schlafen geht” © Joachim Torbahn

 

Für Erwachsene: „Dracula“ vom Puppentheater Halle

Sowohl bei „Nightlight“ als auch bei „Ferdinand“ agieren auf der Bühne Ensembles, die mit Freundlichkeit dem Publikum zugewandt sind, man fühlt sich wohl. Das ist bei Stücken für Erwachsene anders. Das Puppentheater Halle verwandelt in „Dracula“ die Nacht in einen Alptraum. Fünf Spieler und Spielerinnen agieren im Halbdunkel, fördern „Die Mächte der Finsternis“ – so der Untertitel – zutage. Da flattern Fledermäuse, heulen Wölfe oder wird die Dracula-Puppe mannshoch von einem dreiköpfigen Ensemble geführt. Der Clou aber ist, dass sich Menschen und Puppen – alle gleich maskiert und kostümiert – stets neu gemeinsam formieren, da sind alle fünf auf einmal Dracula, oder sind die drei Frauen des Ensembles zusammen mit einer Puppe das Opfer. Die Inszenierung von Yngvild Aspeli zeigt die kollektiven Urängste vor dem Unheimlichen in beeindruckenden Bildern.

Über die Einheit von Natur und Mensch: „Resonancias“

In „Resonancias“, einer deutsch-französischen Produktion, führt Rafi Martin in der Regie von Julika Mayer in die „Stille der Nacht“, wie es im Untertitel heißt. Martin tritt mit einem großen Klumpen Salz auf, erzählt – auch mit den Worten der chilenischen Wissenschaftlerin Millarca Valenzuela –davon, welche Resonanzen ein Meteorit auslöst, wie er erinnert, das Unbelebtes und Belebtes zusammen schwingen. Martin führt das Publikum dabei immer tiefer in die Welt der Salzwüste von Atacama (Chile) ein, einen der heißesten Orte der Welt und begehrt wegen seiner seltenen Erden. Neben wummernden Basstönen sind die Stimmen von Einheimischen zu hören, manchmal übersetzt als Text an die Wand projiziert, manchmal nur im O-Ton (Spanisch), wo sich erregte Menschen streiten. Dann rieselt aus einem Eimer im Schnürboden Salz, mit dem Martin wie im Sandkasten spielt. Diese Inszenierung atmet Ruhe aus, wobei erzählend der Wunsch nach Einheit von Natur und Mensch immer deutlicher im Raum steht. Was mediativ beginnt, entwickelt im Spiel ein ständig dringend werdender Appell, ohne dass eine Lösung vorgegeben wird. Das Ende bleibt offen.

Zirkus und Figurentheater

Die Suche nach einem gemeinsamen Rhythmus von Belebten und Unbelebten führen auch Jarnoth und Moritz Haase vom „Raum 305“ (Berlin) in „Oder doch?“ vor. Zwei Türen dominieren den Raum, die Klappen haben, eine lässt sich gar in der Mitte auseinandernehmen und zu einem Spielrequisit verwandeln. Später kommt ein Trapez dazu, auf dem Haase atemberaubende Kunststücke vorführt, während Jarnoth mit einer Puppe spielt, einer Stoffpuppe, in der eine weitere mit hölzernen Gliedern enthalten ist. Mit diesen Requisiten erzählen die Beiden von den Wechseln in den menschlichen Beziehungen, mal zärtlich, mal aggressiv. Mit großer Intimität wird im Tanz, in der Trapezkunst und im Spiel mit der Puppe von diesen Beziehungen erzählt, aber mehr noch erscheint das Spiel mit den Körpern in der Bewegung in all‘ seiner Schönheit. In den letzten Jahren hat der neue Zirkus immer stärkere Berührungspunkte zum Figurentheater hergestellt, was überraschend gut funktioniert, wie diese Aufführung zeigt.

Mit „Oder doch?“ hat das Figurentheaterfestival Imaginale seine Halbzeit erreicht. Das Publikum in Stuttgart drängt in die Aufführungen und das Programm erweist sich als überwältigend vielfältig. Dabei stehen noch Aufführungen Agnès Limbos, Neville Tranter oder Bodil Alling an, allesamt zu der Spitze des Figurentheaters in der Welt zählend. Das Publikum darf gespannt sein.