Ensemble 1700, Dorothee Oberlinger: „Pastorale“

CD: Dorothee Oberlinger „Pastorale“

Seit Jahrzehnten ist die Weihnachtszeit ein Hauptanlass, um Neuerscheinungen auf den seit Jahren heftig schrumpfenden CD-Markt zu werfen. Besonders im Klassik-Bereich widmen sich viele dieser Neuaufnahmen inhaltlich dem Fest selbst. Und da die hierfür geschriebene Musik endlich ist, schaut man entweder in Archivnischen und bereitet das Gefundene meistens – leider – recht akademisch auf oder wiederkäut sattsam Bekanntes zwischen Weihnachtsoratorien und -liedern. Weniges wirkt da wirklich als neuer Impuls, macht Lust aufs Hören und auf Weihnachten.

„Pastorale“, das aktuelle CD-Projekt der Flötistin und Dirigentin Dorothee Oberlinger ist so eine seltene Ausnahme: Schon die ersten Töne haken sich im Ohr fest und man bleibt die gut 100 Minuten gerne dabei. Das hat nichts damit zu tun, dass hier besonders originelle, selten gehörte Werke aufgeführt würden. Corellis Weihnachtskonzert, eine Weihnachtskantate von Alessandro Scarlatti oder Händels Orgelkonzert F-Dur sind beileibe keine Raritäten. Obwohl sie hier in teilweise aufregenden, teils alten, teils neuen Arrangements für zwei Flöten, Streicher und Continuogruppe gespielt werden, mit einer durchaus ungehörten Farbpalette. Vor allem aber hat das Doppelalbum eine mitreißende Dramaturgie.

Die ersten Töne setzen das Thema. Sie kommen nicht von Oberlingers formidablem Ensemble 1700, sondern von der Gruppe Le Piffari e le Muse, von (Italienischem) Dudelsack, Schalmei, Drehleier und Fiedel. Und dann hören wir die Stimme von Matthias Brandt, der sehr ernsthaft und mit großer Leichtigkeit mit Texten von Fanny Lewald und Turi Vasile von den „Pifferari“ erzählt, von Hirten, die früher traditionell zur Weihnachtszeit in die Städte kamen, vor allem nach Rom, um vor Marienbildern zu musizieren. Oberlinger kombiniert nun diese einfachen, bezwingenden, monoton und fast plärrend instrumentierten, archaischen und wirklich mitreißenden Melodien mit der Kunstmusik des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. In die Pastorale am Ende von Corellis Weihnachtskonzert bricht dieser so schön lärmende Volkston ein wie eine Gruppe feuchtfröhlich feiernder Menschen in eine Andacht. Und macht leise. Und dadurch Spaß. Die durch ihre Bach-Interpretationen bekannte Dorothee Mields lässt in Scarlattis Weihnachtskantate ihren Sopran makellos leuchten, aber in einem kurzen Stück aus dem „Terzo libro delle lande spirituali per il Santo Natali“ von Francisco de Soto de Langa aus dem Jahr 1588 hebt ihre Stimme ab, geleitet und begleitet von Schalmei und Dudelsack und schwingt ganz frei, sozusagen über der Gesangslinie. Und wie „Le Piffari e le Muse“ Anfang und Ende von Vivaldis C-Dur Concerto RV 443 kapern wie weiland Erol Flynn reiche Schiffe böser Kapitäne, muss man einfach gehört haben.

Das alles geht natürlich nur auf, weil das Ensemble 1700 entspannt und enthusiastisch musiziert und sich gänzlich uneitel mit den „Pifferari“ verpartnert – was übrigens das Kunstvolle etwa eines für Blockflöte bearbeiteten Orgelkonzerts von Händel gleichzeitig auf ein hohes Podest stellt und ungeahnt zugänglich macht. Unbedingt erwähnt werden muss noch das traumwandlerisch schöne Flötenspiel von Dorothee Oberlinger und Elisabeth Wirth und Evgeny Sviridov, der als Konzertmeister mit schlankem, vor Energie zitterndem Bogenstrich Richtungen vorgibt, schönste Kurven vorzeichnet und Strukturen zusammenhält, ohne sich je in den Vordergrund zu spielen.

Für mich ist „Pastorale“ die schönste Weihnachts-CD im Klassik-Bereich seit vielen Jahren.

„Pastorale“ von und mit Dorothee Oberlinger und dem Ensemble 1700, mit Dorothee Mields, Matthias Brandt und Le Piffari e le Muse ist am 4. November 2022 bei Deutsche Harmonia Mundi erschienen. Im Handel ist das Projekt physisch und digital sowohl als Doppelalbum als auch als Einzel-CD (ohne die von Matthias Brandt gelesenen Texte) erhältlich. Wir empfehlen unbedingt die Doppel-CD-Version. Einen kurzen akustischen Appetizer gibt es HIER.