Cover „Hinter mir weiss“, edition a

Buch: Hinter mir weiß

Seit gut 20 Jahren ist „authentisch“ ein magisches Wort, besonders in Kunst und Kultur. Wer „authentisch“ ist, ist er oder sie selbst, gibt nicht vor, wer ganz anders zu sein, hat keine Maske vor dem Gesicht, es sei denn, er oder sie stellt gerade diese Tatsache aus. Kann, wer nicht „authentisch“ ist, überhaupt Künstler sein? Sind andererseits nicht Masken und Verwandlungen sowie Visionen und Haltungen, die weit über den eigenen Tellerrand hinausfliegen und sich auch mal anderen Perspektiven als den eigenen öffnen, notwendige Zutaten im künstlerischen Schaffensprozess?

Martin Kušej auf jeden Fall ist „authentisch“, in jedem Fall ganz bei sich. Das ist die Qualität seines Buches „Hinter mir weiß“ und eigentlich auch der wesentliche Kritikpunkt. Wer bin ich und was habe ich wie zu sagen? Um diese beiden Fragen drehen sich die ganzen in zehn Kapitel mit Ein-Wort-Überschriften – von „Sprache“ und „Körper“ bis „Tod“ und „Gott“ – strukturierten 190 Seiten. Einzige Ausnahme: Das letzte Kapitel heißt wie der Titel.

Martin Kušej erzählt uns also, wer er ist: Theaterregisseur und aktuell Intendant am Wiener Burgtheater. Bei seiner Beschreibung beider ausgeübter Tätigkeiten kommt bemerkenswert häufig das Personalpronom in der ersten Person Singular vor. Von der ersten Person Plural liest man hingegen kaum.

Dennoch ist das Buch interessant. Vor einer weißen Wand ist ja vieles spannend. Aber Kušej kann wirklich schreiben. Womit ich nicht unbedingt seine etwas weitschweifigen, aber sehr plastischen Inhaltsangaben und Interpretationsansätze der von ihm inszenierten Stücke meine. Die aber auch wieder „authentisch“ sind. Hier glaubt einer noch an Theaterstücke! Und daran, dass deren theatrale Umsetzung vor allem dem Regisseur obliegt! An dieser Stelle darf nicht verschwiegen werden, wie Kušej die Schauspielerinnen und Schauspieler preist, mit denen er zusammenarbeitet, auch wenn er ihnen höchst selten Namen gibt.

Spannend ist der „authentische“ Blick auf die Theaterwelt und – vor allem aufs eigene Ich. Auf 190 Seiten zeichnet Kušej das Bild eines einsamen Menschen, der provoziert, nicht um zu provozieren, sondern weil er nicht anders kann. Jemand, der tatsächlich ernsthaft um seine Identität ringt. Wirklich fesselnd wird es, wenn der Sohn slowenischer Einwanderer von seiner Jugend erzählt, von der Geschichte slowenischer Migration in Kärnten, vom eigenen Aufenthalt in Ljubljana und am dortigen Theater, vom Umgang mit Katholizismus und mit Drogen. Und wenn Kušej auf sich selbst blickt, Probleme mit Bindungen und, euphemistisch gesprochen, Unduldsamkeiten eingesteht und doch auf fast absurde Weise zärtlich wirkt dabei.

Ich habe persönlich tatsächlich kaum Arbeiten von Martin Kušej live auf der Bühne gesehen. Gut erinnern kann ich mich an einen „Prinz von Homburg“ in den 90ern am Schauspielhaus in Hamburg mit Kostümen, besonders Anzügen in merkwürdigen Farben und einem unattraktiven Setting irgendwo zwischen Schieß-Übungsplatz und Tiefgarage. Ich mochte das alles nicht, außer einigen Schauspielern, als ich es sah. Aber ich erinnere mich heute noch an viel, besonders an Gesprochenes. Martin Kušej ist ein Regiehandwerker-Beserker, bei dem die Sprache im Vordergrund steht. Was durchaus altmodisch wirkt und zum Burgtheater gut passt. Er mag verstören und provozieren, aber er bequemt sich der Stücke an, sieht sie nicht (nur) als Material. Und er ist ein Intendant, der allein auf der Spitze der Pyramide thront.

Es handelt sich also vermutlich bei „Hinter mir weiß“ um ein Bekenntnisbuch einer aussterbenden Spezies. Man kann über den Autor denken, was man möchte. Er hat schon etwas zu erzählen.

Martin Kušej: „Hinter mir weiß“, edition a, Wien, 192 Seiten
ISBN: 978-3-99001-538-4
Das Buch ist am 14. Mai 2022 erschienen und zum Preis von 24 € im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich, sowie als e-book für 16,99 €