Die Eröffnung des 40. Heidelberger Stückemarkts

Bilanz des Heidelberger Stückemarkts

Der 40. Heidelberger Stückemarkt ist zu Ende. Nach dem Aus für den Stückemarkt beim Berliner Theatertreffen ist seine Bedeutung für die deutschsprachige Theaterszene noch gestiegen. Doch auch in der Stadt selbst kam das Festival wieder sehr gut an. Ein Resümee.

 

So dynamisch, so queer und so divers war der Heidelberger Stückemarkt im Hinblick auf die Wettbewerbsauswahl neuer Dramatik und den üppigen Gastspielreigen noch nie. Nur eins war er nicht: kontrovers. Denn Publikum, Jury und Theatermacher waren sich während des zehntägigen Festivals, das nunmehr zum 40. Mal veranstaltet wurde, weitgehend einig darin, dass die zeitgenössische Bühnenkunst die ganze bunte Vielfalt unserer Gegenwart aufgreifen, reflektieren und von Fall zu Fall auch mal dekonstruieren soll.

Breites Themenspektrum, wenig Kontroverse

Thematisch und stilistisch also ein ganz breites Spektrum, das auch dem psychologisch grundierten Erzähltheater traditioneller Machart einen Raum ließ, etwa beim Gastspiel der im Tirol der Nachkriegszeit spielenden „Adern“ von Lisa Wentz. Inszeniert wurde die Produktion des Wiener Akademietheaters von David Bösch als düster-melancholisches Genrebild einer ehelichen Zweckgemeinschaft, die zusehends von den verdrängen Traumata der NS-Zeit eingeholt wird. Denn damals hatte der Bergarbeiter Rudolf hilflose Zwangsarbeiter in einem Stollen zurückgelassen. Ein atmosphärisch äußerst dichter Abend, dem Sarah Viktoria Frick und Markus Hering mit ihren Szenen einer verkorksten, aber vom Alltagspragmatismus getragenen Ehe viele feinsinnige Nuancen abgewinnen. Beifall, und zwar nicht zu knapp.
Noch enthusiastischer gefeiert hat das Publikum Brigitte Venator und Karin Beiers Sterbehilfe-Stück „Aus dem Leben“, ein dokumentarisches Rechercheprojekt aus dem Schauspielhaus Hamburg über Suizidwillige, Sterbebegleiter und deren Angehörige. Das Tabuthema Tod wird darin von einem multiperspektivischen Netz aus Sprache eingefangen. Dass dabei immer wieder befreiend gelacht werden kann, gehört zu den Überraschungsmomenten des Abends.

Shootingstar Caren Jeß

Im wahrsten Sinne des Wortes tierisch gut dann auch „Die Katze Eleonore“ der 1985 geborenen Caren Jeß, die derzeit zu den Shootingstars der neuen Dramatik gehört. Nicht nur beim Heidelberger Stückemarkt, sondern auch bei den Mülheimer Theatertagen und bei den Autor:innentheatertagen am Deutschen Theater Berlin. Beim Heidelberger Widerstands-Festival „Remmidemmi“ konnte das Publikum im vergangenen Herbst bereits den Dialogwitz ihres (jetzt nach Berlin eingeladenen) „Stilllebens“ erleben, und nun folgte als Gastspiel aus Dresden der brillante Monolog einer Immobilienmaklerin, die sich in kafkaesker Weise aus dem Alltagsleben verabschiedet und zum Stubentiger mutiert. Der Mensch als Tier, das war schon immer eine fabelhaft gute Idee, um Daseinsmöglichkeiten symbolistisch auszutesten. Karina Plachetka schleicht und kratzt sich darin wunderbar grazil durch ihre tierische Eleonoren-Existenz und scheut sich dabei auch nicht, echtes Katzenfutter aus dem Aluschälchen zu lecken. In Heidelberg konnte man es noch in der fünften Reihe wittern, ähnliche Düfte werden sich bald auch bei den Mülheimer Theatertagen verbreiten.

 

„Die Katze Eleonore“ von Caren Jeß mit Karin Plachetka in der Inszenierung des Staatsschauspiels Dresden. Foto: Sebastian Hoppe

 

Gewinnerin Leonie Lorena Wyss

Das Gastspielprogramm des Heidelberger Stückemarkts zieht seit jeher deutlich größere Besucherscharen an als die szenischen Lesungen im Wettbewerb, die laut Intendant Holger Schultze als „Herzstück“ des Festivals gelten. Wie immer wurden sechs neue deutschsprachige Texte vorgestellt, flankiert von drei weiteren Beiträgen aus dem diesjährigen Gastland Schweden. Den mit 10.000 Euro dotierten Autor:innenpreis des Stückemarkts sicherte sich vollkommen zu Recht die Schweizer Dramatikerin Leonie Lorena Wyss mit ihrer poetischen Seelenerkundung „Blaupause“, handelnd von einem Mädchen in der Pubertät, das allmählich den Zauber der lesbischen Liebe entdeckt, sich aber zugleich gegenüber den traditionellen Gesellschafts- und Partnerschaftsbildern behaupten muss. Die Autorin spielt überaus gekonnt mit Metaphern und behutsam herausgearbeiteten Psychologismen. Aller Voraussicht nach wird der 41. Heidelberger Stückemarkt im Frühjahr 2024 mit der Uraufführung der „Blaupause“ eröffnet.

Gewinnerin des Autor:innenpreises 2023: Leonie Lorena Wyss. Foto: Lea Menges

Doppeltes Glück hatte Lamin Leroy Gibba mit seiner „Doppeltreppe zum Wald“, da er nicht nur den Publikumspreis des Stückemarkts erhielt (2500 Euro), sondern auch den SWR2-Hörspielpreis (5000 Euro), verbunden mit der Zusage, dass sein Gewinnerstück über die Wirrnisse einer afrodeutschen WG-Community als Hörspiel produziert wird. Die Ursendung ist beim Stückemarkt 2024 geplant. Gibbas Text gleicht mit seinem Themenkomplex Alltagsrassismus einem Katarakt aus Worten, Meinungen und Stimmungen. Dramaturgisch dürfte er schwer zu packen sein, aber das gehörte ja schon immer zu den spannendsten Herausforderungen des Theaters.

Schwedische Gastspiele

Der Internationale Autor:innenpreis (5000 Euro) ging an Alejandro Leiva Wenger für sein bereits 2016 in Stockholm uraufgeführtes Stück „Leichenschmaus / Minnesstund“. Es handelt von dem Verwirrspiel nach einem tragischen Todesfall und der ungewöhnlichen Recherche nach der Biografie des Toten. Die schwedischen Beiträge des Festivals richten sich an alle Altersgruppen, die strikte Trennung zwischen Jugend- und Erwachsenentheater scheint aufgehoben zu sein. Auf der inhaltlichen Ebene ist eine starke Politisierung zu erkennen, speziell bei den dokumentarischen Arbeiten. Aber auch die Tolstoi-Adaption „Es gab noch nie eine Frau wie Anna Karenina“ von Tone Schunnesson rückt mit deutlich modernisiertem Vokabular den Freiheitsdrang der Titelfigur „Anna fucking Karenina“ ins Zentrum. Effi Briest und Emma Bovary lassen grüßen.

Zahlreiche Gewinner:innen

Erfreulich außerdem: Die Auslastung des 40. Heidelberger Stückemarkts lag bei 95 Prozent. Während andernorts der Publikumsschwund infolge der Corona-Pandemie und anderer Krisenszenarien noch längst nicht bewältigt ist, brummt der Festival- und Repertoire-Betrieb des Heidelberger Theaters. Die diskussionsfreudigen Zuschauer ließen sich in großer Offenheit auch auf die digitalen Angebote des „Netzmarkts“ ein, verfolgten den Wettbewerb um den Nachspielpreis (für den Leo Meiers „zwei herren von real madrid“ in der Inszenierung des Schauspiels Leipzig ausgewählt wurde) und die drei Gastspiele in der Sektion „Jugendstückepreis“. Diese Auszeichnung sicherte sich das Junge Schauspielhaus Hamburg für das in Kooperation mit der Theaterakademie Hamburg realisierte Projekt „Out there“ von Staislava Jevic nach einer Idee von Dominique Enz. Zwei 15-Jährige suchen darin auf berührende Weise einen Weg aus der sozial und medial bedingten Einsamkeit. Eine Therapiestunde, die wie ein Update des guten, alten Grips-Theater-Tons wirkt.