Szene aus „El Candidato“ von Marc Villanueva Mir

Das Fast Forward Festival am Staatsschauspiel Dresden

Wieder live und vor Publikum – Fast Forward, das europäische Festival für Junge Regie, meldet sich zurück

Im Frühsommer hatte sich ja in Hamburg schon das Körber-Studio für Junge Regie (siehe DIE DEUTSCHE BÜHNE 8/2022 Anm. d. Redaktion) zurück gemeldet auf der Bühne, das Treffen der Talente aus den Regie-Studiengängen im deutschsprachigen Raum. Jetzt folgte – nach pandemiebedingten Fluchten ins Netz und in die Stream-Performance – auch Fast Forward, das nach dem Start in Braunschweig nun in Dresden heimische Treffen junger Regisseurinnen und Regisseure, die sich mit ersten eigenen Arbeiten in verschiedenen europäischen Theaterländern durchzusetzen beginnen – am Karriere-Start. Beide Festivals haben im aktuellen Jahrgang sehr deutlich gezeigt, wohin vor allem die Reise gehen wird für die nachwachsende Generation: Energisch und zielstrebig weg vom konventionellen Theater- und Repertoire-Betrieb und hinein in die „freie Szene“ des Theaters.

Theater ohne Bühne?

Mancher und manche braucht nicht mal mehr eine Bühne – der spanische Regisseur Marc Villanueva Mir, Absolvent am Regie-Institut der Uni in Gießen, nutzt drei große Tische einer Dresdner Szene-Kneipe, um „El Candidato“ zu zeigen; an ihnen spielen je acht Stück Publikum immer zu zweit eine Art Anti-Schachspiel, das im Aufruhr der späten 60er Jahre in Paris kreiert wurde und in dem mit ziemlich verwirrenden Tricks und Finten politische Kandidaten aufeinander losgelassen werden – mit dem Hauptziel, möglichst viel Konkurrenz über die Klinge springen zu lassen und vom Feld zu fegen. Auch ein Leichenwagen gehört zu den Spiel-Steinen. Angenehm unkorrekt und anarchisch ist die politische Idee, und sie führt weit über das Theater hinaus – die Arbeit erhielt in Dresden (wie zu erwarten) den Fast Forward-Publikumspreis.

Auf ganz andere Art würde auch der Schwede Karl Sjölund aus Stockholm im Grunde gern Abschied nehmen von den Zwängen der Bühne – er schickt der Produktion „Mute Compulsion/Stummer Zwang“ eine Kurzfassung von Jerzy Grotowskis Theorien über das „Arme Theater“ voraus: kein Drumherum mehr, keine Technik, kein Brimborium – nur die Schauspiel-Künste zählen. Grotowskis Ideen folgend, gibt Sjölunds Team dem Ensemble einer Theater-Aufführung den Text des Stückes immer erst im Moment des Spielens per Knopf-Lautsprecher auf die Ohren. Das wäre eine interessante Strategie (die einst auch Christoph Schlingensief für Regie-Anweisungen verwendete, notfalls auch für Texte), die aber in Dresden zu einer Art Fake-Theater führt – denn das Ensemble aus Dresdner Profis agiert auf der Bühne vom Festspielhaus Hellerau ja sehr routiniert und sehr wohl auch in einem komplett durchtechnisierten und gut ausgestatteten Bühnenraum. Wozu da Grotowski beschwören?

Szene aus „Singing Youth“ von Judit Böröcz, Bence György Palinkas und Máté Szigeti

Szene aus „Singing Youth“ von Judit Böröcz, Bence Györgi Palinkas und Máte Szigeti @ Zsófia Sivák

 

Ein extrem gelungenes Experiment aus Politik und Musik aus Budapest hatte derweil das Festival eröffnet – Judit Böröcz, Bence György Palinkas und Máté Szigeti haben geschickt zwei historische Epochen miteinander verzahnt, in denen Ungarn von kompromisslosem Nationalismus geprägt war: im Aufschwung des Kommunismus gleich nach dem Krieg und ein halbes Jahrhundert später dann im Fundamental-Nationalismus des aktuellen Orban-Regimes. Der National-Wahn ist jeweils gebunden im Chor – Lieder von damals und heute singt das Sextett, vertont wurden dafür die radikalen Texte aktueller Statements. Politisch wird sozusagen über Bande gespielt, denn zunächst ist vom alten Budapester Nationalstadion die Rede, 1953 erbaut nach Plänen eines Exilanten aus Griechenland und abgerissen 1996, um Platz zu schaffen für die Puskas-Arena, eine Art Denkmal auch für den Potentaten Viktor Orban. Aber „Singing Youth“, also „Singende Jugend“, heißt eine Skulptur von 1953, die noch immer beim Stadion steht. So ist auch die grandiose Chor-Stunde überschrieben, die zum ähnlich starken Polit-Kommentar wird wie die einst auch bei „Fast Forward“ erstmals gezeigten polnischen Chor-Projekte von Marta Gornicka.

Dokumentartheater, Zimmerschlacht, Musical

Andere Projekte in Dresden blieben weniger klar und spektakulär – etwa der Theater-Film „Playing Earl Turner“ von Laura Andreß und Stefan Schweigert aus Österreich, der Szenen aus dem NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe nachstellt und sie vermengt mit den Terror-Phantasien im Tagebuch des US-Amerikaners Earl Turner vom Beginn der 90er Jahre; das ist sehr redlich, aber wenig anspruchsvoll. Auch „Ambient Theatre Fury“, eine Art Zwei-Mensch-Zimmerschlacht über das Reden und Nicht-Reden miteinander in der Liebe bleibt gut gemeint, aber vage. Und „Who killed Janis Joplin?“, der Beitrag aus Serbien, ist nicht mehr als eine komplett nach kommerziellen Regeln konzipierte Musical-Biographie mit dem Rock-Idol als junger wie als etwas reiferer Sängerin (Joplin starb mit 27). Spektakulär ist dieses Projekt, aber auch sehr banal.

Höhepunkte aus Litauen und Frankreich

Szene aus „The Silence of the Sirens“ inszeniert von Laura Kutkaité

Szene aus „The Silence of the Sirens“, inszeniert von Laura Kutkaité © Dmitrij Matvejev

 

Zwei Highlights prägten das Finale – „Das Schweigen der Sirenen“, eine halb-dokumentarische MeToo-Geschichte über Macht-Missbräuche im Film- und Theater-Betrieb, die das Team um die litauische Regisseurin Laura Kutkaité erarbeitet hat, inhaltlich berührend und schmerzhaft, szenisch bestenfalls ansprechend – die Produktion erhielt den Festival-Hauptpreis. Regisseurin Kutkaité wird in absehbarer eine Arbeit am Dresdner Staatsschauspiel realisieren können. Herausfordernder (und eher jenseits von Diskursen und Debatten) geriet „La Fracture/Der Bruch“, ein Projekt der jungen Yasmine Yahiatène – sie erzählt von dem weiten Weg, den sie selber gehen musste, um dem 2021 verstorbenen Vater nahe zu kommen, der sie nie wirklich aufgeklärt hatte über die Flucht aus der Heimat zur Zeit des französischen Krieges in Algerien.

Yatiahènes Familie stammt aus der algerischen Kabylei und flüchtete nach Belgien. Den weiten Weg zum Vater zeigt Yatiahéne als kleines szenisches Meister-Stück – sie malt ein Fußballfeld auf den Bühnenboden, dazu lärmt im Video die jubelnde Erinnerung an Frankreichs WM-Sieg über Brasilien vor 24 Jahren. Der legendäre Zinedine Zidane gehörte damals zum Team von „Les Bleues“ – und der kam aus einem Dorf nicht weit von dem des eigenen Vaters. Papa hatte Zidane verehrt. Aus Fußball- und Familien-Erinnerungen, sehr trickreich in Video-Sequenzen gebunden, erwächst immer mehr Nähe zum Vater – bis sich (gemischt aus Live-Kamera und Video) Tochter und Vater ineinander überblenden. Nächsten Sommer, sagt die junge Yasmine zum Schluss, wird sie Papas Dorf besuchen. Endlich – zuerst im Spiel und auf der Bühne – hat sie ihn gefunden.

Immerhin hat „La Fracture“ den Jugendpreis des Festivals erhalten, der Hauptpreis wäre genauso angemessen gewesen. Wie fundamental wichtig ein Festival wie Fast Forward ist, zeigt sich in Begegnungen wie dieser.

 

Szene aus „La Fracture“ von und mit Yasmine Yahiaténe

Heimlicher Höhepunkt: „La Fracture“ von und mit Yasmine Yahiatène © Vanden Neste