Der Science-Fiction-Liebhaber

Der Autor und Regisseur Wilke Weermann hat eine Vorliebe für Science-Fiction und Horror. Immer mehr Theater entdecken die Qualität seiner Arbeiten. Ein Porträt

Wir entscheiden uns für ein veganes Café in Köln. Auf dem Tisch: starker Kaffee und viel Gesprächsstoff. Denn Wilke Weermann, gerade 31 Jahre alt geworden, hat eine sehr genaue Vorstellung davon, was gutes Theater ausmacht. Seit seinem ersten Theaterstück „Abraum“, das 2017 uraufgeführt und gleich mehrfach ausgezeichnet wurde, ist er als Dramatiker und Regisseur landauf, landab gefragt. Für den gängigen Stückekanon hat er sich bislang wenig interessiert: Er sehe keinen Sinn darin, klassische Stoffe zu machen, um dann zu sagen, wie rassistisch oder sexistisch sie seien, sagt er. Stattdessen schafft Wilke Weermann lieber eigene Werke, entdeckt neue Autor:innen oder selten Gespieltes für die Bühne. Seine eigenen Stücke, aber auch seine Inszenierungen anderer Werke umkreisen stets gegenwärtige Probleme unserer Gesellschaft: etwa das Leben mit künstlicher Intelligenz und virtuellen Kopräsenzen, wie in „Odem“ am Staatstheater Kassel oder in „Unheim“ am Schauspiel Frankfurt (beides Uraufführungen eigener Texte). Aber auch die Kehrseiten einer heteronormativen Gesellschaftsordnung, wie in der deutschsprachigen Erstaufführung von „Zaun“ am ETA Hoffmann Theater Bamberg (Autor: Sam Max), sowie menschliche Verdrängungsmechanismen aktueller Krisen, die er zuletzt in „Der eingebildete Krake“ am Theater der Jungen Welt Leipzig thematisiert hat. 

Um Perspektiven auf Gegenwärtiges zu vermitteln, entwirft Wilke Weermann gerne Zukunftsszenarien: Science-Fiction, Horror oder Dystopie prägen erkennbar seinen Stil sowohl beim Schreiben als auch beim Inszenieren. Automaten mit Gefühlen, spukige Sounds und Menetekel, wohin man horcht und schaut. Etwa in „Unheim“ am Schauspiel Frankfurt: Hier leben „ans Netz angeschlossene“ Menschen in einem virtuellen Heim zusammen und übersehen dabei eine Leiche, die mitten im Raum liegt. Sätze wie „Die Zukunft ist unheimlich. War immer schon so“ fallen hier, und „Die Server haben es gerne kalt“. „Vielleicht bin ich da ein Viel-zu-spät-Romantiker. Viele Menschen glauben, das Unheimliche durch Ruinen und Geister würde uns heute nicht mehr umgeben. Ich denke aber, dass das nicht weg ist, nur weil jetzt überall das Licht an ist. Diese Gefühle des Unheimlichen kann man auch in ganz anderen Kontexten haben, etwa bei einem Spuk im Laptop.“ 

Vorliebe für Grusel

Digitaler Spuk steht auch im Zentrum des Twitch-Abends „Hinter den Zimmern“ am Schauspiel Köln, für den Wilke Weermann den Text geschrieben und den der Digitaltheaterpionier Roman Senkl inszeniert hat. Zwei junge Investigativreporter:innen suchen hier nach einem Mann, der angeblich vor Jahren durch eine Wand verschwunden (genauer: „geglitcht“) ist. Die Inszenierung, die vorgefilmte Szenen mit gestreamtem Livespiel, virtuellen Sequenzen und einem wilden Chat-Dialog verbindet, setzt sich mit einem reinen Internetphänomen auseinander: den Backrooms, dem Glauben an eine virtuelle Parallelwelt, verbreitet in Form von virtuellen Horrorgeschichten (sogenannter Creepy-pasta). „Hinter den Zimmern“ ist spannend, unterhaltsam. Wer eine intellektuelle Fallhöhe sucht, wird womöglich enttäuscht. Wer sich auf das Projekt einlässt, vielleicht gar im Chat mitliest, spürt, wie sich hier zwei Welten begegnen: Twitch-Nerds und konventionelle Zuschauerschaft bedient Weermanns Text in einem gelungenen Balanceakt hervorragend, mit seiner ungekünstelten Sprache einerseits und Anspielungen etwa auf den antiken Minotauros-Mythos andererseits. Etwa 1700 Leute sahen die Premiere von vorne bis hinten, sage und schreibe an die 93 000 Menschen schauten in Summe zumindest mal vorbei, schreibt mir Weermann nach der Premiere. Da kommt das analoge Theater nicht mit.

Wilke Weermann © Antine Yzer

Wilke Weermann © Antine Yzer

Trotzdem besetzt er mit seiner Vorliebe für den Grusel eine Nische auf dem Markt. Ist das eigentlich eine Chance oder eine Einschränkung? „Ich habe den Eindruck, mit Science-Fiction und Horror hat man schnell das Problem, dass sie als Genre abgekanzelt werden mit der Begründung, dem kann man jetzt keinen Hochkultur-Anstrich geben“, sagt Weermann. Es gebe eine Duldung von Science-Fiction, etwa bei „1984“ oder „Fahrenheit 451“ – wenn es sich mit dem ganz großen gesellschaftlichen Dystopiesiegel versehen lasse. Und dann gebe es im Denken vieler halt noch Dinge wie „Star Trek“. „Aber dazwischen passiert noch so viel, ich finde es total erstaunlich, dass etwa Octavia E. Butler auf deutschen Bühnen nicht stattfindet oder Autoren wie Stanisław Lem so wenig vertreten sind. Da werden große philosophische Fragen sinnlich erfahrbar verhandelt.“ 

Kunst als transformative Kraft

Mitten im Grusel schafft Weermann als Regisseur immer auch Platz für Humor, das ist ihm wichtig: „Das Seltsame interessiert mich besonders. Und das ist eben verwandt mit dem Komischen. Sich zu gruseln oder zu amüsieren, das sind zwar vermeintlich gegensätzliche Reaktionen, aber ausgelöst werden können sie von ein und demselben Impuls. Wenn etwa im ,Eingebildeten Kraken‘ den Patient:innen zu verstärktem Geknackse von Plastikflaschen die Gliedmaßen gebrochen werden, dann kann man darüber lachen oder darunter leiden.“ In der an Thomas Manns „Zauberberg“ angelehnten Stückentwicklung für Zuschauer:innen ab 15 Jahren geht es um die Frage, was das Wissen um den drohenden Klimakollaps mit den Menschen macht. Anstatt zu handeln, frönen die Figuren, allesamt Patient:innen in einem ländlichen Heilbad, lieber einer Kultur der Wellness und des Wegsehens: Nachrichtenkonsum ist lediglich in homöopathischen Dosen erlaubt. Unausgesprochen, doch unübersehbar steht die Frage im Raum, wie die Erde ohne menschliches Leben aussähe. Würde da überhaupt etwas fehlen? Wilke Weermann hat sich für die Inszenierung von H. P. Lovecraft inspirieren lassen, der sich für ihn ganz leicht mit Nietzsches Nihilismusverständnis zusammendenken lässt: „Was Lovecraft erzählt, ist im Prinzip ähnlich wie das, was Nietzsche in ,Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne‘ beschreibt: Die Menschheit als eine kurze Zufallserscheinung auf irgendeinem Planeten, und sobald sie wieder weg ist, wird sich nichts begeben haben. Ich denke, dass das eigentlich hilfreich sein kann, um resilienter mit Krisen in der Welt umzugehen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Leben auf einem Planeten mit gewissen Ressourcen etwas Gegebenes ist, sondern ich gehe davon aus, dass ich erst mal etwas dafür tun muss.“ 

Wilke Weermann © Antine Yzer

Wilke Weermann © Antine Yzer

Denkanstöße liefert Wilke Weermann am liebsten, ohne mit dem Zaunpfahl zu winken: „Ich glaube, dass Kunst eine transformative Kraft hat, aber sie lässt mich nicht von einem Extrem ins andere springen. Was sie kann, ist, mich geschickt an Perspektiven heranführen, die neu für mich sind. Und zumindest mich hält so eine seltsame Schwebe immer sehr aktiv, weil sie unauflösbar ist. Echte Dialektik ist seltsam.“ 

Betonte Künstlichkeit

Jenseits aller gewollten Uneindeutigkeit sind klare formale Entscheidungen sein Ding, halbe Sachen dagegen nicht. Bei der Ästhetik seiner Inszenierungen setzt er auf eine betonte Künstlichkeit. „Ich frage mich bei allem, was ich mache, was es gerade für ein Medium braucht. Ich komme nicht aus einer Familie, in der man ins Theater geht oder Thomas Mann liest. Und gerade weil ich das als Kind nicht gelernt habe, braucht es für mich einen Grund dafür, dass etwas in einem Theaterraum stattfindet.“ Der vielfach ungelenke Gang der Darsteller:innen, vorproduzierte Texte und Lippensynchronisation wie zum Beispiel in „Zaun“ machen seine Version des Verfremdungseffektes aus. Ein junges Mädchen wird hier auf einer Farm von religiös fanatischen Eltern in einer sprichwörtlich stereotypen Erziehung gefangen gehalten. Anstatt die Handlung nur zu bebildern, entwickelt Weermann mit seinem künstlerischen Team aus der tristen Farm- eine bunte Polly-Pocket-Puppenwelt. Nichts ist echt – außer dem Schrecken, den eine omnipräsente heteronormative Gesellschaftsordnung erzeugen kann. Das Bühnen- und Kostümbild von Johanna Stenzel und die Tonspuren von Sounddesigner Constantin John fügen sich praktisch nahtlos in Weermanns Verfremdungs-Impetus. Mit beiden Kolleg:innen arbeitete er kontinuierlich zusammen, die drei sind seit dem Studium in Ludwigsburg befreundet.

Bei einem so ausgeprägten Stil drängt sich schnell die Frage nach einer möglichen Erstarrung auf: „Ich bin in der glücklichen Lage, mehr Angebote zu haben, als ich machen kann, und versuche, nicht so wahnsinnig viele Stücke im Jahr zu schreiben“, sagt Weermann. „Bei vielen Leuten, die vier oder fünf Stücke im Jahr schreiben, habe ich schon das Gefühl, dass die mir nichts mehr zu erzählen haben. Das möchte ich vermeiden, daher inszeniere ich auch Stücke anderer.“

So gerne und bewusst er der Mann fürs Seltsame und Abseitige ist, sieht er doch eine Gefahr, selbst ins Abseits zu geraten – auf den Studiobühnen, wo er zumeist arbeitet. „Ich versuche, mir eine langjährige Perspektive aufzubauen, denn sonst laufe ich Gefahr, für immer in diesem Kosmos zu bleiben. Es gibt Leute und Arbeitsweisen, die von Nähe profitieren, ich aber nicht.“ Mit der Idee, doch mal einen Klassiker zu inszenieren, freundet er sich gerade an, aber: „Ich kann nur bis zu einem gewissen Punkt Kompromisse eingehen. Molière werde ich erst mal nicht machen.“ Lieber würde er mal auf einer Drehbühne und mit Fluggurten jemanden mit einem Ufo entführen. Die große Bühne für Weermann, es ist wohl an der Zeit.

Wilke Weermann wurde 1992 in Emden geboren und arbeitet als freier Regisseur und Dramatiker. Von 2012 bis 2013 war er Regieassistent am Deutschen Theater Göttingen. 2014 bis 2018 absolvierte er sein Regiestudium an der ADK in Ludwigsburg. Eigene Inszenierungen wurden u. a. am Schauspiel Stuttgart, Staatstheater Kassel, Schauspiel Frankfurt und am ETA Hoffmann Theater Bamberg gespielt. Weermann erhielt diverse Auszeichnungen, u. a. den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik (für sein Debütstück „Abraum“), eine Einladung zum Festival radikal jung und die Nominierung für den Hauptpreis des Heidelberger Stückemarkts 2021.

 

Dieser Artikel ist erschienen in Ausgabe 07/2023.