Jetzt Mal im Ernst!
Foto: Die berühmte Nibelungensage von Bürk und Sienknecht als radiotaugliches Poptheater am SchauSpielHaus Hamburg. © Matthias Horn Text:Michael Laages, am 24. Januar 2025
Seit mehr als zehn Jahren bringen Regisseurin Barbara Bürk und Musiker Clemens Sienknecht Neuinterpretationen von Klassikern auf die Bühne, angelehnt an amerikanische Radioshows. Demnächst auch wieder im Deutschen SchauSpielHaus Hamburg mit Schillers „Kabale und Liebe“. Wie immer „allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“.
Neulich haben sie dann doch gestaunt, denn jemand hatte Barbara Bürk und Clemens Sienknecht „getoppt“. Nicht mehr nur „…mit anderem Text und auch anderer Melodie“ wurde da die Bearbeitung klassischen Materials angekündigt, sondern „garantiert ohne“ auch nur ein Wort des Originals. Das wird dann wohl die grundsätzlichste Art der „Überschreibung“ gewesen sein und hätte vermutlich bestenfalls „nach Motiven von“ untertitelt werden sollen. So aber sind der Musiker Clemens Sienknecht und die Regisseurin Barbara Bürk in der gemeinsamen Arbeit nie mit einem der Stücke umgegangen, für die die beiden tatsächlich eine neue und ungewöhnlich frische Form entwickelt haben. Mit „Effi Briest, allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“, uraufgeführt vor bald zehn Jahren im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses, hat eine Duokarriere der besonderen Art begonnen.
Theaterformen neu gedacht
Wer die beiden von Beginn an verfolgt, staunt zuweilen, freut sich aber auch über die Haltbarkeit dieses kreativen Konzepts; über die andauernde Kraft der Marke, die Bürk und Sienknecht für Bühnen und Ensembles in Hamburg und Hannover, Berlin, Düsseldorf und Bochum geschaffen haben. Bürks eigene Inszenierungen waren und sind derweil in Potsdam, Stuttgart, Frankfurt am Main oder Basel entstanden, und sie selbst gehörte lange zur festen Regiemannschaft an den Dienstorten des Intendanten Wilfried Schulz in Hannover, Dresden und Düsseldorf. Kennengelernt haben die Kölnerin Bürk und der Hamburger Sienknecht einander aber im Umfeld von Christoph Marthaler – Bürk war Marthalers Regieassistentin, Sienknecht gehörte erstmals in Marthalers erster (und ziemlich legendärer) Hamburger Arbeit „Goethes Faust, Wurzel aus 1 + 2“ zu den Musikern.

Barbara Bürk und Clemens Sienknecht. Foto: Matthias Horn
Im Deutschen SchauSpielHaus Hamburg bereiten sich die beiden auf ihre bevorstehende erste Begegnung mit dem Klassiker Friedrich Schiller vor. Ab Anfang Februar steht dort „Kabale und Liebe“ auf dem Spielplan – natürlich wie immer in einer ganz eigenen Interpretation: „mit anderem Text und auch anderer Melodie“. Damit setzen sie ihre Arbeit am Haus fort, die mit „Effi Briest“ begann und über „Anna Karenina“ bis hin zu „Die Nibelungen“ drei bemerkenswerte Inszenierungen hervorgebracht hat. Karin Beier hatte das Regieduo aus Köln mitgebracht, wo die beiden mit dem neuen Format experimentierten. Schon in Zürich hatten Sienknecht und Bürk bei Barbara Frey das frech-fiktive Biographical „Werner Schlaffhorst – ein Leben, zu wahr, um schön zu sein“ kreiert. Unlängst folgte eine ähnlich fiktive Lebensshow über einen gewissen „Günther Gründgens“ in Hamburg. Feine Ironie gehört wohl zu den Überlebensmitteln.
„Effi Briest“-Experiment
Vorbild für das „Effi Briest“-Experiment am Beginn des gemeinsamen Weges in Hamburg war „A Prairie Home Companion“ gewesen, jene amerikanische Radioshow, von der Robert Altman mit seinem letzten Film erzählt hatte: „The Last Radio Show“. Ein gewisser Garrison Keillor hatte seit Mitte der 1970er-Jahre eine Radioshow live auf der Bühne eines kleinen Theaters in der amerikanischen Provinz betrieben, mit hörspielartigen Szenen und schrägem Entertainment, aber auch Werbeeinblendungen und blühendem Blödsinn. Für die Hamburger Show kam als extrem prägender Effekt eine echte Radiolegende hinzu – die Stimme des Schauspielers und altmeisterlichen Sprechers Gert Westphal. Mit seinem Status als eine Art „Vorlesekönig“ im Radio und seiner Fontane-Lesung (aus dem NDR-Archiv) durchzog er die Inszenierung von Bürk und Sienknecht – von der Schallplatte, gern mit Knackern und Kratzern sowie hängender oder über die Platte rutschender Tonabnehmernadel auf dem Plattenspieler.

Fontanes Tragödie „Effi Briest“ in Hamburg als schräg inszenierte Show im Stile der 1970er-Jahre. Foto: Matthias Horn
Mittlerweile bitten Bürk und Sienknecht bei Bedarf den Hamburger Schauspieler Michael Prelle um stimmliche Hilfe. Westphal aber, sagt Barbara Bürk, „war auch unsere Kindheit; das war eine Stimme, die Sicherheit vermittelte, da fühlte ich mich zu Hause“. Sienknechts Lieblingsstimme in Kinderzeiten war eher der NDR-Märchenonkel Eduard Marks; gelegentlich, sagt Sienknecht, habe er Westphal und Marks auch verwechselt. Auf „Effi Briest“ folgte in Hannover „Madame Bovary“, weniger als Radio-, eher als Museumsinstallation. Und mit „Anna Karenina“, wieder in Hamburg, war eine Art Zyklus komplett: über „Die berühmtesten Seitensprünge der Weltliteratur“.
Tolstoi-Variation
Die hannoversche Arbeit war eine Art Test, ob die Methode auch ohne Radio funktionieren würde. Bei der Tolstoi-Variation in Hamburg sorgte sich die Regisseurin dann schon ein wenig um die Risiken der Wiederholung – Musiker Sienknecht setzte derweil eher auf die Chancen der Vertrautheit: wieder mit demselben Team und in derselben Form zu arbeiten. Das Hamburger Team scheint pures Glück zu sein. Nicht nur, weil es hier mal eine Hausband Die Socken gab: Ute Hannig, Markus John, Yorck Dippe und Michael Wittenborn sind durchweg hochmusikalisch und spielen teils mehrere Instrumente, der Cellist Friedrich Paravicini (ein herausragender Musiker nicht nur im Theater!) kam hinzu. Und Sienknecht selbst ist auf der Bühne natürlich auch eine Art „Bandleader“.
Zuletzt in der Bürk-Sienknecht-Version von „Goethes Faust“ in Hannover, inszeniert als immer gleiche Jahreshauptversammlung irgendeiner Goethe-Gesellschaft, schwingt sich der Pianist tatsächlich zum umjubelten Ober-Entertainer in der ziemlich grellen, irrwitzigen Show auf.
Kreativität und Wandel
Wie aber funktioniert die Methode tatsächlich, wie entsteht die Marke Bürk-und-Sienknecht? Und macht’s den Machern noch Spaß? „Wir brauchen inzwischen deutlich länger, um einen Stoff zu finden“, sagt Clemens Sienknecht, und ja, Abnutzung sei spürbar. Barbara Bürk widerspricht: Früher habe sie diese Sorge gehabt, gerade jetzt aber nicht mehr, „weil wir in der Arbeit so sehr variieren“ – etwa zwischen Kleists „Hermannsschlacht“ in Bochum und „Goethes Faust“ in Hannover. Jetzt ist sie neugierig auf Schillers Klassiker, und wieder wird viel gesungen zur zentralen Fabel. Aber was eigentlich? Sienknecht erklärt: „Alles, was man zusammen singen kann, ist möglich.“ Schnell kommen bald „die Lieblingslieder vom Ensemble“ hinzu. Niemand kennt zu Beginn der Proben die eigene Rolle, kann die privaten Hits darum auch nicht danach aussuchen. In der ersten Hälfte der Proben, erzählen Bürk und Sienknecht, werde nur musikalisch gearbeitet, und dann erst kommen szenische Vorgänge hinzu.

Clemens Sienknecht (l.) und Jan-Peter Kampwirth in einer andersartigen „Anna Karenina“ in Hamburg. Foto: Matthias Horn
Sienkecht sagt: „Ich fand es früher ganz schrecklich, wenn auf eine Textstimmung eine passende Musik gesetzt wird“, schon bei „Effi“ hätte das Team stattdessen „völlig planlos Musik gemacht“. Bürk ergänzt: „Als ich dazukam, standen alle am Klavier, nur mit ein bisschen Kostüm, und ich hatte den Eindruck, das Stück sei schon fertig, ohne jeden Text.“ Das Radiofeature-Gefühl war schon da, danach erst wurden Texte sortiert. „Dann saßen alle zusammen, und intuitiv wurden die Lieder zu den Szenen gestellt – so ist die Methode entstanden.“ Sienknecht staunt noch heute: „Ganz viel passt zu ganz viel, mehr, als man denkt!“ Erst in der Endphase, ergänzt Regisseurin Bürk, würden dann Szenen und Abläufe fixiert; „denn dann ist das Ensemble musikalisch schon ganz sicher. Da muss man sich gar nicht mehr so viel ausdenken, das passiert fast von allein“.
Kampf mit dem Material
Und weiter: „Die Rollen werden ganz spät zugeordnet.“ Gelegentlich habe schon mal jemand gesagt: „Wenn ich wüsste, wer ich bin, wüsste ich auch, nach welchen Songs ich suchen muss.“ Sienknecht sieht das aber positiv, denn „da muss das Ensemble nicht dauernd darüber nachdenken, wer jetzt als Figur was bedeutet“. „In Hamburg“, sagt der Pianist, „haben wir ein richtiges kleines Kammerorchester – was für ein Glück!“ Und wer inszeniert? „Letztlich Barbara“, sagt Clemens. „Ich bin ja auch auf der Bühne und habe keinen Blick mehr fürs Ganze. Für mich ist der Probenprozess selten vergnüglich …“ Immer plage ihn der Zweifel, „ob das was wird. Erst später genieße ich“. Barbara Bürk kämpft zuweilen mit dem Material: „Mit den ‚Nibelungen‘ konnte man mich früher jagen, ich wollte, wenn überhaupt einen Klassiker, dann frühestens ab Ibsen inszenieren.
Aber unser Format macht’s möglich, mit all dem Humor und so viel Distanz.“ Immer war auch Bürks eigene Arbeit von Musik geprägt, seit Marthaler und auch seit den Assistenzen bei Frank Castorf. Ohne Partner Clemens inszeniert Barbara Bürk demnächst wieder in Frankfurt: Ibsens „Die Frau vom Meer“.
Prägungen, Humor und Distanz
Sind die Arbeiten der beiden eigentlich „Überschreibungen“? Eher nicht. Sienknecht meint dem Untertitel zu folgen, „wir würden nie kommentieren; unsere Haltung und Reflexion zum Original ergibt sich aus der Art, wie wir’s machen“. Schön ist es, ergänzt Barbara Bürk, wenn das Publikum (wie zuletzt in Hannover) merkt, „dass wir das gern machen“.
Noch einmal erinnert Sienknecht an den Förderer Marthaler: „Interesse am Theater hatte ich schon vorher, aber mit Marthaler kam ich in eine neue Welt.“ Barbara schaut ihn an: „Er hat dich vom Musiker in die Darstellerrolle geschubst.“ „Ja, er hat mich an die Rampe geschickt, und ich hab stumme Monologe gehalten, nur mit Musik …“ Marthaler beschützt seine Mitarbeitenden, das haben beide erlebt, das ist nicht wie bei anderen. Inszeniert er überhaupt? „Natürlich – so, wie nur er es kann“, sagt Sienknecht. Ist er das Vorbild für beide? „Eine Prägung, aber wir sind gut beraten, ihn nicht nachahmen zu wollen.“ Die Zusammenarbeit als Regieteam ist erst im Laufe der Zeit entstanden. Als Duo sind beide womöglich „weniger greifbar“, und das Ensemble sei darum vielleicht sogar „mehr bei sich“. „Wir unterstützen einander in unseren Stärken und gleichen unsere Schwächen aus“, sagt Barbara Bürk zum Schluss. „Wir tun einander gut.“
Barbara Bürk, 1965 in Köln geboren, studierte Regie an der Theaterakademie Ulm und arbeitete zunächst als Schauspielerin, später als Regieassistentin am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg. Seit 1998 inszeniert sie an renommierten Theatern und erhielt 2012 den Theaterpreis DER FAUST für „Alice im Wunderland“ am Jungen SchauSpielHaus Hamburg.
Clemens Sienknecht, wurde 1964 in Hamburg geboren. Nach abgebrochenem Studium und ersten Versuchen in Bands wechselte er ans Theater. Seine Arbeiten zeichnen sich durch musikalische Dekonstruktionen und absurde Komik aus. Seit 1993 besteht eine enge Zusammenarbeit mit Christoph Marthaler, von dem er lernte, „wie man aus Traurigem große Freude schöpfen kann“.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr.1/2025.