Als Theaterleiterin und Regisseurin hat Brigitte Dethier über vier Jahrzehnte das Kinder- und Jugendtheater geprägt. Für ihr Lebenswerk wird sie nun mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST geehrt. Ein Gespräch darüber, warum Kinder- und Jugendtheater kein pädagogisches Beiwerk ist, sondern Vorbild für viele Theaterformen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Liebe Brigitte Dethier, Sie bekommen einen FAUST für Ihr Lebenswerk. Wie sind Sie überhaupt zum Theater gekommen?
Brigitte Dethier Ich habe nach dem Abitur in Mainz angefangen, auf Lehramt zu studieren, obwohl ich in der Schulzeit sehr viel Theater gespielt hatte. Aber ich wollte damals nicht im Theater arbeiten. Weil ich als Kind viel umgezogen bin, wollte ich an einem Ort sesshaft sein und eine Familie haben. Doch dann hat Erika Fischer-Lichte an der Uni Frankfurt den Studiengang Theaterwissenschaft eröffnet… Ich habe mich in Mainz exmatrikuliert, bin nach Frankfurt gegangen und habe Germanistik im Hauptfach und Psychologie und Theaterwissenschaft in den Nebenfächern studiert. Und zwar sehr lange, weil ich nebenbei viel Theater und auch eine private Schauspielausbildung in Heidelberg gemacht habe.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Hat sich da schon ein besonderes Interesse für Kinder- und Jugendtheater abgezeichnet?
Brigitte Dethier Als Kind war ich vor allem im Erwachsenentheater. Es gab dann in Frankfurt aber das wunderbare Institut für Jugendbuchforschung mit Seminaren über Kinder- und Jugendtheater. Dort bekam ich einen Vertrag als studentische Hilfskraft mit dem Auftrag, theaterpraktische Projekte mit Studierenden zu machen. In dieser Zeit, um 1983, hat der Institutsleiter Klaus Doderer ein Symposium zur Zukunft des Kinder- und Jugendtheaters im Odenwald veranstaltet, mit allen Kinder- und Jugendtheatermacher:innen – damals mehr Macher – aus der Bundesrepublik. Dort hat mich Jürgen Flügge von der Münchner Schauburg wahrgenommen, und so habe ich direkt nach dem Magisterabschluss in München begonnen. Dieses Glück, immer gefragt zu werden, hat mich während meiner gesamten Karriere begleitet. An der Schauburg organisierte ich 1986 erst Schauspiele mit, wurde dann Regieassistentin und durfte schnell Inszenierungen machen. Als Jürgen Flügge 1989 nach Esslingen ging, hat er mich als Leiterin des Kinder- und Jugendtheaters mitgenommen. Dann ging ich nach Tübingen. Dort musste ich nach einem Leitungswechsel nach zwei Jahren wieder gehen und bekam von Ulrich Schwab das Angebot, Direktorin des Schnawwl (heute Junges Nationaltheater Mannheim, Anm. der Redaktion) am Nationaltheater Mannheim zu werden.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Und dann kam eine Theatergründung …
Brigitte Dethier Ja! ich habe mich für die Gründungsintendanz des Jungen Ensembles Stuttgart, JES, beworben. Ich durfte das Theater aufbauen und 20 Jahre lang leiten, bis 2022. Seitdem bin ich freiberuflich.

Festival Schöne Aussicht 2016: Brigitte Dethier mit Cindy Godefroi (Kopergietery/ Gent/Belgien) vor dem JES. Foto: Tobias Metz
DIE DEUTSCHE BÜHNE Worin bestand in der Studienzeit Ihre inhaltliche Verbindung zum Kinder- und Jugendtheater?
Brigitte Dethier Dass ich im Germanistikstudium noch mal alle Kinderbücher lesen durfte, fand ich toll. Somit war schon mal eine inhaltliche Nähe zu den Stoffen da. Über die unterschiedliche Gewichtung in der Theaterlandschaft zwischen den Sparten, die damals ja noch sehr viel größer war, habe ich gar nicht nachgedacht. An der Schauburg in München war ich an einem Ort, der sehr gute Möglichkeiten hatte. Als Jürgen Flügge mich fragte, ob ich nach Esslingen mitgehe, habe ich kurz überlegt, ob ich nicht doch noch versuche, eine Assistenz in den Münchner Kammerspielen zu machen. Denn einmal in der Woche bin ich dorthin gelaufen und habe die großen Inszenierungen von Dieter Dorn und anderen gesehen. »
DIE DEUTSCHE BÜHNE Das wäre aber etwas ganz anderes geworden …
Brigitte Dethier Was ganz anderes! Aber ich habe dann gedacht: Ich gehe mit der Theaterfamilie nach Esslingen. Die Karrieremöglichkeiten im Kinder- und Jugendtheater sind von außen betrachtet sehr viel kleiner, aber du kannst dir als Regisseurin Fehltritte leisten, ohne gleich weg zu sein. Diese Sparte ist so experimentierfreudig, weil man mehr wagen kann. Deswegen und wegen der Kollegialität habe ich nie mehr wieder über einen Spartenwechsel nachgedacht.
DIE DEUTSCHE BÜHNE War das insofern ein Vorteil, dass das Kinder- und Jugendtheater im Schatten des Großen war, weil man eben ungestört reflektieren oder Fehler machen konnte?
Brigitte Dethier Jein. Im Schatten zu wachsen ist schwer. Das hat auch mit Ressourcen zu tun, die dir zur Verfügung gestellt werden, und auch mit künstlerischen Verletzungen: Wenn du am gleichen Haus arbeitest, die gleiche Arbeit machst und weißt, deine Kollegen verdienen einfach mal 1000 bis 1500 mehr, da wird man auch ärgerlich. Aber im Schatten zusammen zu wachsen hat die Kollegialität gestärkt, weil wir gemeinsam für etwas gekämpft und uns vernetzt haben. Dass das JES nicht als 4. Sparte des Staatstheaters, sondern als eigenständiges Haus gegründet wurde, war für das künstlerische Selbstbewusstsein dort wichtig. Die Kraft der eigenständigen Häuser ist enorm.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Wie war es denn am JES, aus dem Nichts ein Theater aufzubauen?
Brigitte Dethier Aufregend. Zwei Tage, nachdem ich als Intendantin gewählt worden bin, hatte ich die erste Sitzung mit dem Hochbauamt, der Umbau des Gebäudes war ja schon im Gange. Dann gab es wegen eines Asbestfunds einen Baustopp; somit war klar, dass wir es nicht zur Spielzeit 2003 eröffnen können. Die Gründungsverwaltungsleiterin war Claudia Schmitz (seit 2022 Geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins, Anm. d. Red.), die ich von Mannheim her kannte, und am Anfang saßen Claudia und ich als Zwei-Frau-Betrieb in einem Büro mit einem Schrank und fünf leeren Aktenordnern. Wir wollten nicht zehn Monate tatenlos warten, sondern sind mit mobilen Produktionen in Schulen, in Kindergärten gegangen und haben angefangen, unsere Adresskartei aufzubauen. Im Mai 2004 haben wir dann das JES eröffnet.

Deutscher Theaterpreis DER FAUST im Staatstheater Mainz am 28. November 2009. Foto: Markus Nass
DIE DEUTSCHE BÜHNE Wie ist es, Kinder- und Jugendtheater zu machen im Vergleich zu Erwachsenentheater?
Brigitte Dethier Es ist eine alte Mär, aber sie stimmt: Wir denken unser Publikum immer mit. Auch wenn du deine Darlings manchmal killen musst. Die Unterschiede zwischen den Sparten werden allerdings immer kleiner, weil das erwachsene Theater sehr viel vom Kinder- und Jugendtheater lernt: das Niederreißen der vierten Wand, durchlässige Spieler:innen, die man heute Performer:innen nennt.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Womit wir wieder bei Erika Fischer-Lichte wären …
Brigitte Dethier Das Kinder- und Jugendtheater ist ein Vorreiter vieler Formen. Das Konzept der Bürgerbühnen gab es in den Spielclubs der Kinder- und Jugendtheater schon sehr lange. Und wir haben immer Erzähltheater gemacht: Lina Beckmann in „Laios“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zeigt für mich Kinder- und Jugendtheater par excellence. Die setzt sich einen Helm auf und ist eine andere Figur, sie erzählt mit sparsamen Mitteln einen ganzen Kosmos, wechselt die Emotionen. Das ist so schön und wirkt so einfach.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Kinder- und Jugendtheater wird immer als eine Sparte genannt. Aber eigentlich sind das doch zwei verschiedene Bereiche.
Brigitte Dethier Jugendtheater braucht manchmal fast das Gleiche wie das Theater für die Allerkleinsten. Wenn Jugendliche in ihrer pubertierenden Phase in einer Antihaltung ins Theater gezwungen werden und sich im dunklen Zuschauerraum verstecken, hast du es schwer. Wenn man sie genauso im Blick hat, mit direktem Blickkontakt, kann es toll werden. So achtsam man im Theater für die Allerkleinsten mit seinem Publikum umgeht, so achtsam muss man auch im Jugendtheater mit ihnen umgehen. Klar, du erzählst andere Stoffe, und dann ist das Jugendtheater nicht mehr weit weg vom Erwachsenentheater.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Sehen Sie sich als Künstlerin und Pädagogin? Hat Kinder- und Jugendtheater auch einen pädagogischen Impuls?
Brigitte Dethier Ich denke, Theater hat einen pädagogischen Impuls. Wenn mir ein Stück wirklich gefällt, dann möchte ich erahnen, warum sie das gemacht haben und was sie damit wollen. Es muss um etwas gehen. Und wenn das der Fall ist, dann ist es unsere Aufgabe als Theatermacher:innen, dem Publikum die Köpfe und die Herzen aufzumachen, damit Denkanstöße gelingen. Genau das ist für mich gute Pädagogik. Einen pädagogischen Zeigefinger will ich nicht, aber ich will etwas erreichen, etwas bewirken. Und in den letzten Jahren will ich immer mehr erreichen, weil es immer wichtiger wird.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Das junge Theater hat es ja leider nicht geschafft, die Welt oder das Land zu retten. Ist es nicht manchmal sehr frustrierend, wenn man sieht, dass sich das Kinder- und Jugendtheater in den letzten Jahrzehnten einerseits gut entwickelt, aber andererseits die Gesellschaft immer zersplitterter wird?
Brigitte Dethier Ja, es ist frustrierend. Man denkt bei vielen Dingen: Warum hat das nicht gefruchtet? Wie lange machen wir das jetzt schon in den unterschiedlichsten Formen – und die partizipativen Formen werden ja immer mehr ausgebaut. Ich glaube immer noch dran, dass das Theater eine Heilkraft hat. Und es ist fatal, wenn gerade jetzt an den Begegnungsräumen von Kunst und Kultur gespart werden soll. Wir haben es leider auch oft mit nicht sehr kulturaffinen Politiker:innen zu tun.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Ist das die Antwort auf unsere Frage, warum Sie sich zusätzlich zur Arbeit am Theater ehrenamtlich bei ASSITEJ und im Bühnenverein engagiert haben?
Brigitte Dethier Absolut. Die kulturpolitische Arbeit habe ich immer als Kampf für die Rechte für Kinder und Jugendliche und für diese Sparte verstanden. Und das ist ein Motor, den ich nach wie vor habe.

Festival Schöne Aussicht 2014 am JES. Foto: Tobias Metz
DIE DEUTSCHE BÜHNE Sie sind selbst eine südwestdeutsche Theatermacherin. Aber gerade im Osten Deutschlands gab es eine starke Tradition des Theaters für Kinder und Jugendliche …
Brigitte Dethier Ja, aber die sind sehr zusammengespart worden: Eines der großen Häuser von früher, das Theater an der Parkaue, macht dieses Jahr nur noch vier oder sechs neue Produktionen! Es ist leider nicht gelungen, die großen Häuser in ihrer Stärke zu behalten oder gar als große Kulturhäuser auszubauen. Es wäre extrem wichtig, diese Häuser noch mal auf ganz andere Beine zu stellen, da ist in den 1990er-Jahren eine Chance verpasst worden.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Zurück zum Arbeitsalltag, einer Karriere zwischen Regie und Theaterleitung: Wie haben Sie es grundsätzlich gehalten mit dem arbeitsökonomischen Verteilen zwischen Regie und Verwaltung?
Brigitte Dethier Im JES habe ich meistens eine, im Ausnahmefall zwei Produktionen im Jahr inszeniert. Die Abwechslung habe ich geliebt. Mir war wichtig, dass gute Regisseur:innen kommen. Ich hatte keine Angst davor, dass jemand kommt, der bessere Produktionen macht als ich. Jede gute Arbeit geht auf das Habenkonto eines Hauses. Wenn du ein Theater leitest, musst du auch viel mit der Politik spielen. Das ist wie ein Pokerspiel, mal ist man in der Rolle des Enfant terrible, mal sagt man eher: „Ihr macht es toll, aber könnt ihr uns noch ein bisschen helfen?“ Dieses Aushandeln hat mir auch immer viel Freude gemacht.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Sie haben erst im Sprechtheater inszeniert, dann kam Tanz und seit einiger Zeit auch Musiktheater. War das eine bewusste Entwicklung?
Brigitte Dethier Es gab nie den dezidierten Plan, jetzt muss ich aber mal Tanz- oder Musiktheater machen. Es entstand immer über menschliche Beziehungen. Der Choreograf Ives Thuwis und ich hatten das Bedürfnis nach einer Zusammenarbeit, so entstanden fünf Produktionen am JES. Die erste Oper bekam ich von Michael Klügl in Linz angeboten, „Die Eisprinzessin“, und später fragte mich Dorothea Hartmann von der Deutschen Oper Berlin, ob ich in der Tischlerei eine „Schneekönigin“ machen wolle. Nun folgt dort „Die drei Rätsel“, im großen Haus.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Was bedeutet Ihnen der FAUST für das Lebenswerk?
Brigitte Dethier Sehr viel! Dass eine Kinder- und Jugendtheatermacherin einen Preis für ihr Lebenswerk bekommt, empfinde ich als die größte Ehrung. Das macht viel Hoffnung.
DIE DEUTSCHE BÜHNE Was sind Ihre Wünsche für das Kinder- und Jugendtheater?
Brigitte Dethier Wir haben die gleichen Bedürfnisse als Künstler:innen wie in den anderen Sparten. Eine Etat-Anpassung ist dringend notwendig. Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass man dieselbe Arbeit verrichtet, aber schlechter bezahlt wird, weil man für ein anderes Zielpublikum arbeitet. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Thema in Deutschland und betrifft fast alle Berufe, die sich um Kinder kümmern: Grundschullehrer:innen, Kinderärzt:innen … In Sonntagsreden wird betont, wie wichtig uns Kinder und Jugendliche sind, aber es folgt daraus kein konsequentes Handeln. Es muss flächendeckender mehr Kinder- und Jugendtheater geben, die UN-Kinderrechtskonvention fordert das Recht auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben. Das müssen wir allen Kindern und Jugendlichen ermöglichen.

Martina Jacobi, Brigitte Dethier und Detlev Baur beim Interview in der Deutschen Oper in Berlin. Foto: Annette Hauschild/Oskreuz