Ein Opernensemble im düster-vernebelten Bühnenbild

Im Reich von Percht und Krampus

Alban Berg: Wozzeck

Theater:Staatstheater Braunschweig, Premiere:12.10.2025Regie:Franziska AngererMusikalische Leitung:Srba DinićKomponist(in):Alban Berg

Mit ihrer Inszenierung von Alban Bergs „Wozzeck“ am Staatstheater Braunschweig thematisiert Regisseurin Franziska Angerer, wie Gewalt von Generation zu Generation weitergetragen wird. Setting, Musik und Ensemble liefern einen schaurig-packenden Abend.

Ein Narr, ein Hundsfott: Wozzeck. Einer, der als Opfer der Gesellschaft durch soziale Unterdrückung und Armut entmenschlicht zum Femizid getrieben wird?

Das Schicksal von Johann Christian Woyzeck, der aus Eifersucht 1821 die Witwe Johanna Christiane Woost in Leipzig erstach, war Vorbild für Georg Büchners Dramafragment „Woyzeck“ (UA 1913) und Alban Bergs Oper „Wozzeck“ (UA 1925). Die Experimente, die der Doktor im Stück mit Woyzeck durchführt, beruhen auf historischen Begebenheiten: Wissenschaftler Justus von Liebig führte in Gießen Versuche durch, um herauszufinden, ob Menschen sich ausschließlich von Hülsenfrüchten ernähren können, was unter anderem zu Halluzinationen führte. Die Debatte um die Schuldfähigkeit des psychisch kranken Woyzeck war bei seiner Verurteilung groß. Seine Hinrichtung – die letzte öffentliche in Leipzig – erfolgte 1824 auf dem Marktplatz.

Versehrte Seele

Woyzecks gesellschaftliches Abdriften wird in Franziska Angerers Inszenierung zum grundlegenden Ton. Das kollektive Monster „Gesellschaft“ und Gewalt sind der Nährboden seines Wahns. Angstzustände und Halluzinationen sollen den dem Mord Angeklagten heimgesucht haben. „Das waren die Freimaurer!“, ruft er in der ersten Szene aus.

Zwei Darsteller:innen auf einer nebligen Bühne mit Geweihkostümen

Wozzeck (Scott Hendricks) und der Narr (Yuedong Guan). Foto: Björn Hickmann

Die Pfähle, die Bariton Scott Hendricks als einnehmender Wozzeck auf der kargen Bühnenlandschaft (Mirjam Stängl) im Unterhemd hin und her hetzend aufbaut und immer wieder neu anordnet, sind abgebrannt. Sie ragen als angekokelte Spitzen aus dem öden Gelände – ein Abbild seiner versehrten Seele? Zwischen den Grenzen von Realität und Schimäre wird er auf dieser Bühne Teil einer Welt gruseliger Sagengestalten: Sein Kamerad Andres (Peter O’Reilly), der Hauptmann (Matthew Peña) und auch der Doktor (Valentin Ruckebier) – alle bewältigen die Partien mühelos – lauern mit langen, verdrehten Hörnern und Pelzen (Kostüm: Miriam Grimm) als Krampus und Percht – eine Gestalt des alpenländischen Brauchtums – im Bühnennebel. Durch die wuchtigen Kostüme bleibt ihnen nicht mehr viel Bewegungsfreiheit, aber dieser Auftritt beeindruckt.

Existenzielle Musik

Das Setting passt zu Alban Bergs existenzieller Musik, an der er über viele Jahre arbeitete, unterbrochen von seinem Dienst bei der österreichischen Armee. Von Georg Büchners Fragment wählte er 15 Szenen, jeweils fünf für die drei Akte der Oper. Im Graben dirigiert Srba Dinić die anspruchsvolle Partitur mit ansteigender Spannung, spätestens nach der ersten Szene zieht die cinematische Musik mit der mystischen Inszenierung in ihren Bann. Wozzeck ist von Beginn an mitten im Kreislauf der Gewaltspirale.

Dabei geht es ganz leise los: Ein Mitglied des Kinderchores kommt von rechts, der Rest von links auf die Bühne. Stumm spielen sie „Zeitungslesen“ und wer bei einer falschen Bewegung entdeckt wird, fliegt raus. Es ist eines von mehreren Spielen, die Angerer in der Inszenierung andeutet. So unschuldig sie erscheinen, sind sie Teil gesellschaftlicher Erzählweisen eines gemeinsamen Umgangs: Wer ist Teil von der Gruppe, wer nicht und wie losen wir das aus?

Der Ausweitung der Rolle des Kinderchores scheint bei Angerer eine so passende wie naheliegende Perspektive. Das Wiegenlied „Eia Popeia“ ist eines vieler musikalischer Mittel, die Alban Berg neben Fugen, Interventionen, Zwölftontechnik oder Tänzen in die Partitur einarbeitete. Der uneheliche Sohn von Marie und Wozzeck ist vom Unglück seiner Eltern mitverfolgt.

Eine Darstellerin mit Fellkostüm und angstvollem Ausdruck, davor eine Maske

Marie (Isabel Stüber Malagamba). Foto: Björn Hickmann

Isabel Stüber Malagamba spielt und singt Marie überzeugend in die Enge getrieben. Sie ist von Anfang an eine Ausgestoßene: Ohne mit Wozzeck verheiratet zu sein, hat sie keine Stellung. In der Mordszene verweist Wozzeck sie beim Ausruf „Tot!“ desillusioniert von der Bühne – eine Referenz zu vielen anderen Opern, bei denen die logische Schlussfolgerung eines Konflikts nur der Mord der weiblichen Protagonistin scheint. So richtet sich in diesem Werk auch Wozzecks Zerstörungsdrang nicht gegen seine Unterdrücker wie etwa den Doktor, sondern gegen die Partnerin, die nur ihm gehören soll.

Schaurig-packend

Im Zuschauersaal ist schaurige Gänsehaut vorprogrammiert, durch das substanzielle Aussingen der Partien und durch das durchgehend starke Ensemble. Verstärkt wird Wozzecks zerrissenes Seelenleben durch einen zusätzlichen Darsteller: Auf einer passen übergeordneten Bühnen- und metaphorischen Gefühlsebene performt Künstler Frederic Krauke Wozzecks Versehrtheit: So schnell es geht frisst er einen ganzen Kübel voller Erbsen leer, umklebt den eigenen Schädel – das Hören, Sehen, Fühlen – eng mit dickem Band und lässt sich bei Wozzecks Selbstmord im See minutenlang einen dicken Wasserstrahl aufs Gesicht platschen.

Dass Angerer in der Inszenierung mit dem Setting noch das aktuell kritisierte „Klaasohm“-Fest auf Borkum mit dem Brauch, Frauen zu jagen und mit Kuhhörnern zu schlagen, referenziert, macht den Bogen rund. Eine schaurig-packende Inszenierung für gute Nerven, die richtige Fragen aufwirft.