Zwischen Mensch und Natur

Die Regisseurin Franziska Angerer verbindet die Theatersparten für ihr großes Themen: das Verhältnis des Menschen zur Natur. Ihre Arbeit zeigt performative Antworten auf drängende Fragen der Gegenwart. Ein Porträt

Unser aller bürokratisch geregeltes Leben wird durch Definitionen und Abgrenzungen bestimmt; das gilt auch für die Arbeit an deutschen Stadttheatern. Zugleich mehren sich performative Kunstereignisse, in denen die Synapsen zwischen Ausdrucksmitteln, Gedanken über Alternativen und alternative Wahrnehmungsphänomene größere Bedeutung erlangen als strenge Spartenhoheit. Interdisziplinäre Produktionen in exzeptionellen Kontexten oder an ungewöhnlich genutzten Schauplätzen werden landauf, landab häufiger.

Zu den bemerkenswerten Phänomenen in diesen kreativen Nischen gehört seit einigen Spielzeiten die künstlerische Entwicklung der Schauspiel- und Musiktheaterregisseurin Franziska Angerer. In den letzten Jahren war es ihr trotz der Beeinträchtigungen durch die Pandemie möglich, ihren Erfolgsweg fortzusetzen. Es liegt nicht an den während dieser Zeit erweiterten digitalen Möglichkeiten der Verbreitung und damit verbundenen neuen Spielformen, dass Franziska Angerer mit seltener Konsequenz ihre Vorlieben für bestimmte Sujets, Konzeptarbeiten und Inszenierungsformen realisieren kann. Normale Texte und Partituren mit einem mehr oder weniger im zuständigen Spartenrahmen verankerten Produktionsprozess tauchen in ihrer Arbeitsbiografie bislang nicht auf. Also kein Studiostück in kleiner Schauspielbesetzung, dann ein großes Weihnachtsmärchen oder eine spielintensive zeitgenössische Kammeroper, wie sie oft am Anfang junger Regiekarrieren stehen. Ist Franziska Angerer also eine ins Stadttheater verirrte freie Theatermacherin?

Ihr Thema: das Verhältnis zwischen Mensch und Natur

Tatsächlich liebt sie das Stadt- und Staatstheater, Mehrspartenbetriebe und deren großzügige Personalmöglichkeiten, die sie etwa bei ihren Inszenierungen von „The Prison“ und „Dichterliebe“ am Staatstheater Darmstadt einsetzen konnte. Beide Werke sind Musiktheater, allerdings in ungewöhnlichen Genres: „The Prison“ ist eine von Franziska Angerer zur szenischen Uraufführung gebrachte Chorsinfonie, also ein Konzertstück, und Christian Josts „Dichterliebe“ die eigenschöpferische Überschreibung eines romantischen Liederzyklus durch einen lebenden Komponisten. Es passt auf beide Auseinandersetzungen: Sie nennt als Schwerpunkte die „Entwicklung von alternativen musiktheatralen Erzählformen, die verschiedene Kunstformen vereinen“. Und beschäftigt sich unter anderem „mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur und dem Ende der Anthropozäns“ und entwickelt dafür sinnliche und poetische Zugänge.

Franziska Angerer beim Fotoshooting fürs Cover des Septemberheftes in Berlin © Tobias Kruse/Ostkreuz

Ihre Vorliebe für solche Theaterformen erklärt sich vielleicht auch durch ihren besonderen Ausbildungsweg. Franziska Angerers Geburtsort Texas war bedingt durch die beruflichen Auslandstätigkeiten ihres Vaters. Wichtige Schritte ins Berufstheater wurden die Mitwirkung in den Tanzensembles der beiden Münchner Opernhäuser. Das fiel in die Zeit, als die Leitung der Bayerischen Staatsoper auf eine sinnhaft verdichtete Interaktion von Sänger:innen mit Aktionen Wert legte, die von Tänzer:innen mit klassischer Ausbildung in dieser Form nicht umgesetzt werden konnten. Neben der Regieausbildung an der Bayerischen Theaterakademie August Everding studierte Franziska Angerer Germanistik und Theologie, eine für ihre weitere Entwicklung wichtige Kombination. Im Rahmen des Götz-Friedrich-Preises 2021 wurde sie mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet – wie bereits ihr Regielehrer Sebastian Baumgarten. Eine weitere Ehrung war der Dr. Otto Kasten-Preis der Intendant*innengruppe des Deutschen Bühnenvereins.

Text und Wirklichkeit im Stück „Bär*in“

Zuletzt entwickelte Angerer unter dem Titel „Bär*in“ in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin ein für ihre Arbeit exemplarisches Konstrukt. Gleichwertig verliefen in dieser Uraufführung zwei Themenstränge: Texte aus Nastassja Martins Roman „An das Wilde glauben“, einer autobiografischen Grenzausschreitung, und das Ende der letzten Berliner Stadtbärin Schnute im Jahr 2015. Während ihres Forschungs­aufenthalts bei den Ewenen auf der russischen Halbinsel Kam­tschatka unternahm die Anthropo­login Nastassja Martin eine Wanderung und geriet in Berührung mit einem Braunbären: Er biss ihr einen Teil des Kiefers ab, sie schlug ihm mit einer Hacke eine tiefe Wunde: „… ich sage mir ich sterbe, aber ich sterbe nicht, ich bin bei vollem Bewusstsein.“ Martin überlebte auch durch die Kraft des eigenen Willens und die Bereitschaft, die durch den Biss erworbenen Bärenanteile zu akzeptieren – als Verschmelzung, spirituelle Wiedergeburt, seinsmäßige Umpolung. Das andere Stückkapitel von „Bär*in“ kippt nach Berlin. Als 1939 der Bär dort zum Wappentier wurde, setzte man in den Zwinger am Köllnischen Park eine vierköpfige Bärengruppe, deren letzte Nachfahrin ziemlich einsam starb. Der Titel „Bär*in“ steht für eine genderkorrekte Angabe wie für die psychisch-physische Transformation nach Nastassja Martins Unfall und für „etwas zwischen Bär und Frau“. „Bär*in“ war nach dem musiktheatralen Spaziergang „Osthang“ (Staatstheater Darmstadt 2021) und Ingeborg Bachmanns „Der gute Gott von Manhattan“ (Landestheater Tübingen 2021) bereits Angerers dritte Zusammenarbeit mit dem Komponisten Arne Gieshoff.

Im Foyer der Deutschen Oper Berlin © Tobias Kruse/Ostkreuz

Wenige Stunden vor der „Bär*in“-Premiere treffen wir uns. Sehr schnell kommen wir auf das in dem Wort „Animismus“ summierte und vieldeutig schillernde Phänomen, das Franziska Angerer antreibt. „Im Prinzip“, so Angerer, „verstehe ich Animismus eher als ein Bewusstsein darüber, dass wir in Gefügen leben, in denen wir nicht alleine handeln.“ Wichtig ist für sie, diese Überzeugung nicht nur in anderen Kulturen wahrzunehmen, sondern auch im Rahmen der rationalistisch geprägten Ethik des Westens anzuerkennen. „Im Prinzip geht es nur darum, anderen Lebewesen und Dingen ihr Handlungsvermögen nicht abzusprechen. Diese alten Formen der Wahrnehmung – so sagt es zum Beispiel Nastassja Martin – sind irgendwie verschüttet gegangen durch die strikte Trennung in Kategorien wie belebt und nicht belebt, rational und irrational. Und gleichzeitig sind das ja auch Trennungen, die zu keiner Zeit wirklich aufrecht erhalten werden konnten.“

Form und Sensibilität

Bei der „Bär*in“-Premierenfeier lobten DOB-Intendant Dietmar Schwarz und Tischlerei-Leiterin Dorothea Hartmann an Franziska Angerer die für Theaterarbeit ideale Synthese von empathischer Sensibilität und künstlerischer Zielstrebigkeit. Das Besondere an ihrer Arbeit ist, mit welch inhaltlicher Klarheit sie den eigenen Konzeptkosmos in Abgrenzung zu Sparten-Autonomien generiert. Franziska Angerers Ideen flattern nicht nebulös, sondern sind räumlich und inhaltlich definiert. In „Bär*in“ saß das Publikum um eine in vier fast gleich große Rechtecke gegliederte Fläche mit deutlich erkenn­baren Funktionen für das Instrumentalensemble sowie die Sphären der Ewenen, der Berliner Bären(-Band) und den als „Sündenbock“ entblößten Performancekünstler Frédéric Krauke.

Franziska Angerer separierte auch diesmal ihr ganzheitliches Denken in funktionale Teilzonen, die das Publikum assoziativ und fast logisch zu thematischen Einheiten zusammensetzen konnte. Damit schuf sie auch für die eigene konkrete Probenphase ein haptisches Gerüst. In diesem ist sie frei für Experimente, ohne sich mit dem Ensemble in spekulativen und abschweifenden Gedankenschlangen zu verlieren. Zwei wesentliche Sätze Angerers im Gespräch am Nachmittag der Uraufführung von „Bär*in“ haben programmatischen Charakter: „Die Suche ist spannender als die Antwort“ und „Über Form lässt sich mehr erzählen als durch Inhalt“.

Spezielle Raumkonzepte

Bei ihren oft mit der Dramaturgin Carolin Müller-Dohle und der Bühnenbildnerin Valentina Pino Reyes ersonnenen Inszenierungen artikuliert sich Franziska Angerers Denken in unterschiedlichen theatralen Modi. Weil sie nicht die „immer gleichen Themen“ behandeln will und Sujets selbst entwickelt, scheinen Raumkonzepte für sie von wesentlicher Bedeutung.

Bei der szenischen Uraufführung von Ethel Smyths „The Prison“ im Staatstheater Darmstadt, platziert im Mai 2023 für „Blickwechsel – Das Backstage-Festival“, saß das Publikum auf der Bühne, agierten die Solisten und der Chor im Zuschauerraum. In die zwischen Sinfonie, Kantate und Oratorium pendelnde Riesenpartitur der britischen Komponistin und Frauenrechtlerin aus dem Jahr 1929 sind Reflexe auf die Esoterik-, Reform- und Alternativbewegungen um 1900 eingeschrieben. Henry Brewsters Text ist der Dramaturgie des Mysterienspiels verpflichtet: In der letzten Nacht vor seiner Hinrichtung sucht ein Verurteilter in der Gefängniszelle nach dem Sinn seines Lebens und dessen Konsequenzen. Im Dialog mit seiner als Sopran erscheinenden Seele findet er zur Einheit mit dem Kosmos. „Ich bin die Freude und die Trauer …Ich bin der Gedanke … die Seele … das Zuhause“ endet Smyth in allen Solo- und Chorstimmen.

Franziska Angerer in Berlin © Tobias Kruse/Ostkreuz

Franziska Angerer verallgemeinert das szenisch: Bei der szenischen Uraufführung saß der Gefangene in einem sandkastenartigen Quadrat und verknotete Textilreste. Auf den Zuschauerraum senken sich blutrote Stoffbahnen wie fesselartige Netze, die ein kleines Performancekollektiv in Bewegung bringt, und zwingen alle in Beziehung zueinander. Franziska Angerers Jenseitswesen tragen über schwarzen Overalls rote Bollen, rote Irokesenzacken, rote Zöpfe. Also auch hier Symmetrien, diesmal zwischen Jenseits und Diesseits-Usancen. Das Netz ist erkennbar in einem metaphorischen Sinn als Schicksal und im realen Dasein als materielle Fessel, welche als Trennung der Geschlechter überwunden werden muss.

Franziska Angerers Theaterideen werden nie konfus, haben einen deutlichen formalen Rahmen und ermöglichen dadurch Ideenräume. Insofern sind sie eine performative Reaktion auf den aktuell durch Klimawandel, Krieg und Pandemie rotierenden kollektiven Bewusstseinswandel. Letztlich manifestiert sich in Franziska Angerers Arbeiten auch ein logischer Prozess, welcher die Grenzen und Mängel eines rein rationalen Weltbilds in den derzeitigen globalen Krisen spiegelt. Ihre Gestaltungsprinzipien sind dabei so stark, das sie ihr seit 2018 eine kontinuierliche Theaterpräsenz ermöglichen.

Die bisherigen Inszenierungen

Zwölf Inszenierungen gelangten von ihr bisher zur Premiere. „Apocalypse (not now)“ nannte sie einen „Abend über das Warten auf den Weltuntergang“ als Produktion der Theaterakademie August Everding in der Reaktorhalle München. Das Musiktheater „metamorphosen“ (ebenfalls 2018) war ein „spartenübergreifendes Fadengeflecht zwischen Körpern, Sprache und Musik, Mythos und Science-Fiction“ – ein „gemeinsames Erkunden von Transformation quer zu sozialen Ordnungssystemen und biologischer Abstammung“. Für Genoël von Liliensterns „Unsupervised Sounds“, einem „gegenseitigen Lernprozess zwischen Ensemble Garage und einer künstlichen Intelligenz“, bildeten im Theaterhaus Stuttgart (2023) „seltsame Artefakte mit den Musikern und unter der Leitung des stets kontrollbewussten Komponisten allmählich das Bühnenwerk“.

Franziska Angerers Themen bebildern philosophische Fragestellungen, welche über die Befindlichkeiten des Personen- und Figurentheaters hinausgehen und deshalb Bühnensparten in Grenzbereiche führen. Sie hat sich inzwischen erfolgreich als Repräsentantin eines Theaters des „Dazwischen“ positioniert. In ihren performativen Schwellenschöpfungen entsteht aus den Akkumulationen improvisierender Mitwirkender, Materialgebrauch und Licht ein Ganzes mit viel Gedankenfutter für das Publikum. Räume, in denen Themen und Konzepte aus Gedankenweiten in deutlichere Situationen gebracht werden können, bespielt Franziska Angerer nach penibler Vorbereitung. Sie selbst spricht über das Öffnen von „Wahrnehmungsräumen“ und fordert das Publikum damit zur aktiven Teilhabe. Das hat zur Folge, dass ihre theatralen Gebilde eine rituelle Basis erhalten und sich somit über die unmittelbare Gegenwärtigkeit erheben. Deshalb entziehen sich Franziska Angerers Arbeiten auch einer faktischen Kritik und erfordern erweiterte Kritikmethoden, die außerhalb des Theaters liegen.

„Bisher habe ich meine Engagements tatsächlich immer dadurch bekommen, dass ich auf Leute getroffen bin, die an diese Art von Theatersprache geglaubt haben und Lust hatten, mit mir zusammenzuarbeiten. Also ein eher normaler Weg“, sagt Franziska Angerer. Sie hält es eher für einen Zufall, dass sie fast ausschließlich für offene Stückkonstrukte und Sujets eingeladen wird. Dieser Zufall hat aber womöglich doch Methode, weil sie sich in der Arbeit an offenen musikalischen Sujets sichtbar wohl fühlt.

Franziska Angerer wurde in Texas (USA) geboren. Zunächst arbeitete sie als Tänzerin, studierte dann in München Theologie und Germanistik sowie Regie für Schauspiel und Musiktheater. Sie inszenierte am Staatstheater Darmstadt, für das SPIELART Theaterfestival, am Residenztheater München und am Landestheater Tübingen. 2021 war Fraziska Angerer Preisträgerin des Dr. Otto Kasten-Preises der Intendant*innengruppe des Deutschen Bühnenvereins für „Dichterliebe“.

 

Dieser Artikel ist erschienen in Ausgabe 08/2023.