Eine Person schaut in die Kamera

Fortschreiben statt überschreiben

Ein Interview mit Autor:in Leo Lorena Wyss über den Kanon, ästhetische und strukturelle Zugänge am Theater.

DIE DEUTSCHE BÜHNE „Blaupause“ ist ein Coming-of-Age-Stück über die erste Liebe, über Körper-Entdecken und lesbisch sein. In „Apropos Schmerz“ geht es um weibliche Körper im Gesundheitssystem, das in vielen Bereichen dem biologisch männlichen Körper angepasst ist, und um Endometriose. Wie kommst du zu deinen Themen?

Leo Lorena Wyss Es ist immer eine bestimmte Fragestellung oder ein Thema, das mich persönlich sehr beschäftigt und an dem ich mich in irgendeiner Weise abarbeite. Bei „Apropos Schmerz“ war das ein Gefühl von Wut und Verzweiflung, das mich angetrieben hat. Wie kann es sein, dass so viele Personen in ihren Schmerzen und Anliegen im medizinischen System nicht ernst genommen werden? Wie kann ich überhaupt eine Sprache finden für diese extreme körperliche Erfahrung von Schmerz? Die Erfahrung von Schmerz war auch bei „Blaupause“ sehr wichtig, dort allerdings im Kontext von Verlust in einer lesbischen Beziehung. „Blaupause“ ist mein allererstes Stück. Das war eine Art „Freischreiben“ von Themen, eine Suche nach Sprache für eine Erfahrung, für die es keine Vorlagen, keine Blaupausen gibt.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Dabei geht es um Unterrepräsentation. Gibt es einen bestimmten Anspruch bei der Themensetzung?

Leo Lorena Wyss Es spielt eine Rolle, was die Dringlichkeit angeht, die ich beim Schreiben verspüre. Aber ich würde eine Unterscheidung machen zwischen dieser Dringlichkeit und meinem Ziel beim Schreiben. Mein Ziel ist es nicht, ein bestimmtes Thema zu vermitteln. Dann könnte ich auch einen Essay schreiben, wo ich für ein bestimmtes Anliegen einstehe. Vielmehr entspringt ein Thema immer aus einer Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Fragestellungen. Da spielt Sichtbarkeit eine große Rolle: Welche Bilder, welche Narrative gibt es, welche nicht? Anders als in der Bildungsarbeit, die ich neben dem Schreiben mache, geht es mir im Schreiben fürs Theater nicht um die Vermittlung von Themen, sondern mehr um eine spielerische Annäherung an gegenwärtige Fragen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Bei „Apropos Schmerz“ am Nationaltheater Mannheim gibt es zusätzlich das Begleitprogramm „Queer Doc“, um verschiedene Themen zu vertiefen.

Leo Lorena Wyss Genau. „Queer Doc“ ist als eine Art begleitender Rechercheprozess zum Stück „Apropos Schmerz“ entstanden. Mascha Luttmann, Dramaturgin am Haus, und ich haben vor der Premiere Menschen in Mannheim dazu eingeladen, sich mit den Themen des Stücks zu beschäftigen und mit Expert:innen, mit Aktivist:innen ins Gespräch zu kommen. Bei der ersten Ausgabe war eine Medizinhistorikerin zu Gast und eine Person, die im queeren Zentrum arbeitet. Da ging es viel um die Frage, inwiefern Misogynie und Transphobie Teil der westlichen Medizingeschichte sind und wie sich diese bis heute im Gesundheitssystem fortschreibt. Bei der zweiten Veranstaltung ging es dann, wie im Stück selbst, um Endometriose, wo eine Gynäkologin aus Mainz und eine Person von endoQueer da war, einer aktivistischen Gruppe, die sich für die Sichtbarkeit von (gender)queeren Menschen mit Endometriose einsetzt.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Du schreibst gerade auch an der Stückentwicklung „Mannheimer Räuber*innen“ für die Internationalen Schillertage am Nationaltheater Mannheim. Brauchen wir Überschreibungen? Brauchen wir neue Stücke?

Leo Lorena Wyss Ich hatte am Anfang total Respekt, mich mit einem klassischen Stoff und dann auch gleich mit Schiller auseinanderzusetzen. Gerade zu Beginn meines Schreibens habe ich mich viel am sogenannten Kanon abgearbeitet, lange das Gefühl gehabt, alles lesen zu müssen, alles wissen zu müssen, um überhaupt selbst schreiben zu können. Mittlerweile ist das anders. In der Auseinandersetzung mit klassischen Stoffen wie von Schiller finde ich es spannend, sie nicht nur eins zu eins ins Heute zu übertragen, sondern vielmehr als eine Art Reibungsfläche zu sehen, den Text als Ausgangspunkt für ganz neue Narrative und Perspektiven zu verstehen. In der Arbeit für das Stadtensemble haben wir uns deswegen auch für eine Fort- statt Überschreibung entschieden.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Wie empfindest du die Auseinandersetzung mit queeren Themen im Theater auf einer strukturellen Ebene?

Leo Lorena Wyss Es ist auf jeden Fall langsam mehr Sichtbarkeit da, was aber oft mit einer Reduktion auf diese Position einhergeht. Es ist ein Zwiespalt, aus dem ich mich selber nicht lösen kann: Einerseits ist es toll, bestimmte Themen sichtbar machen zu können und dafür einzustehen. Und gleichzeitig geht ein bestimmter Raum für Widersprüchlichkeiten schnell auch verloren, sobald Diversität Teil eines institutionellen Anspruchs wird. Oftmals geht es zum Beispiel im Sprechen über Stücke nur noch um den Inhalt, um bestimmte Buzzwords und gar nicht mehr um die Form und den ästhetischen Zugriff. Insgesamt finde ich die Entwicklung aber natürlich sehr toll, dass mehr queere Autor:innen in ihrem Schreiben und Arbeiten sichtbar sind.

DIE DEUTSCHE BÜHNE In welche Richtung geht die Entwicklung?

Leo Lorena Wyss Meine Erfahrung ist, dass die verschiedenen Häuser sehr unterschiedlich weit in der Auseinandersetzung sind. Zum Beispiel in der Art und Weise, wie Interviews geführt werden, wie Pressemitteilungen versandt werden, wie in der Dramaturgie über bestimmte Stücke und über Autor:innen gesprochen wird. Generell würde ich aber sagen, dass bei vielen Häusern ein Wille und auch Anspruch besteht, diverse Spielpläne zu gestalten, in denen verschiedene Formate und Stimmen Platz finden.

Leo Lorena Wyss, in Basel geboren, studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und Madrid und studiert derzeit Sprachkunst in Wien. They gewann für „Blaupause“ den Autor:innenpreis des 40. Heidelberger Stückemarkts 2023 und den Retzhofer Dramapreis 2023 sowie den Nestroy-Theaterpreis in der Kategorie „Bester Nachwuchs“ für „Muttertier“. Seit der Spielzeit 2024/25 ist Leo Lorena Wyss Hausautor:in am Schauspiel des Nationaltheaters Mannheim und schrieb die Auftragswerke „Apropos Schmerz“ und gemeinsam mit dem Stadtensemble „Mannheimer Räuber*innen“.

Dieses Interview ist erschienen im Sonderheft DIE QUEERE BÜHNE NR. 2 2025 der DEUTSCHEN BÜHNE.