Im Vordergrund steht eine Person mit dem Rücken zur Kamera. Sie schaut auf eine Person im Hintergrund, die sie herausfordernd anstarrt.

Verloren im Abseits

Edward Palmetshofer: Die Verlorenen

Theater:Badisches Staatstheater Karlsruhe, Premiere:07.06.2025Regie:Stephan Kimmig

Das Stück „Die Verlorenen“ von Ewald Palmetshofer zeigt eine Welt, in der alle Beteiligten bei der Suche nach Sinn auf sich selbst zurückgeworfen werden. Alle sind auf sich allein gestellt. Stephan Kimmigs Inszenierung am Badischen Staatstheater Karlsruhe schafft es diese emotionale Isolierung und Distanz so nah heranzuholen, dass sie unter die Haut geht.

Wenn es einen Dramatiker gibt, der sich denen zuwendet, die keine Stimme haben, dann ist es Ewald Palmetshofer, der in seinen sprachlich stark durchrhythmisierten Stücken deren Sprachlosigkeit thematisiert. Dass das, was er in seinen Stücken verhandelt, kein Problem einer proletarisierten Unterschicht ist, sondern eher die Mittelschicht betrifft, führt er in „Die Verlorenen“ vor: Da will Clara der eigenen Leere entfliehen – was in einer Katastrophe endet.

Wie schon der Titel andeutet, sind hier im Abseits eines Ortes, der weit weg von der umtriebigen Welt liegt, lauter „Verlorene“ versammelt. Clara betritt diesen als Ort einer flüchtigen Vergangenheit. Sie, die sich gerade zaghaft auf einen jungen Mann eingelassen hat, wird wieder eingeholt von ihrer Geschichte: Ihr ehemaliger Ehemann bringt Florentin, den Sohn aus ihrer gescheiterten Ehe zu ihr: am Ende ist Clara tot.

Hohes Tempo

In seiner Inszenierung am Badischen Staatstheater Karlsruhe nimmt Stephan Kimmig die Regieanweisung ernst, die ein hohes Spieltempo einfordert. Er verschlankt darüber hinaus den Text um die meisten Szenen um Harald, den Exmann, und seine neue Frau Svenja. So werden die Handlungen auf die Dreiecksbeziehung Clara, Florentin und Kevin, der das leerstehende Haus heimlich für sich entdeckt hat, konzentriert. Clara wird argwöhnisch beäugt von den Menschen an einer Tankstelle, an der kaum ein Fahrzeug anhält. Wald und Einsamkeit sucht sie, aber selbst hier wird sie nicht in Ruhe gelassen.

Oliver Helf hat eine praktikable Szenerie geschaffen. Im Zentrum steht eine zweistufige Bühne. Auf der oberen Ebene steht das Bett der Tante, in dem Clara schläft. Etwas abgesenkt daneben ist rechts das Schlafzimmer von Harald und Svenja. Links außen wird der Innenraum der Tankstelle angedeutet. Rechts außen stehen sich zwei Polsterreihen von Autos gegenüber, in denen sich André Wager als der alte Wolf ausruht, wenn er nicht auf der Szene ist. Diese Szenerie ermöglicht schnelle Szenenwechsel, betont andererseits die Isolation der hier agierenden Menschen.

Vielschichtige Figuren

Die Texte von Palmetshofer sind nicht einfach. Seine durchrhythmisierte Sprache schafft Distanz, verschärft noch dadurch, dass die Dialoge zugleich eine Erzählhaltung widerspiegeln. Es wirkt, als ob die Akteure von sich selbst in der dritten Person sprechen. Konsequent versucht die Inszenierung von Stephan Kimmig die hinter dieser Sprache verdeckten psychologischen Tiefen dieser „Verlorenen“ auszuloten. Die Figuren bleiben sich dabei fremd. Sie unterwerfen sich der Situation, ohne sie wirklich zu begreifen.

Das spielt das Ensemble hervorragend aus. Allen voran die Clara der Anne Müller. Sie lächelt bis auf Ausnahmen, die die Situation bedingen, alles weg und hat dabei eine beeindruckende Ausstrahlung. Nikita Buldyrski als Kevin, der in eine Situation gestellt wird, die an seine Grenzen geht, spielt seine Gefühle groß aus, seine Zuneigung zu Clara, aber auch in seiner Selbstreflexion. Staatsschauspieler Timo Tank als Exmann Harald und Frida Österberg als dessen neue Frau Svenja bleiben eher in der Stereotype haften. Während die Mannschaft der Tankstelle – Lucie Emons als Tankstellenbetreiberin, André Wagner und Fabian Kulp – präzise Studien ihrer Vereinsamung liefern: Menschen, die in ihren Versuchen, sich in ihrer Welt einzurichten, so hilflos wie verschmitzt reagieren.

Die schwierigste Rolle in diesem Stück ist die des dreizehnjährigen Florentin, der vorübergehend vom Unterricht suspendiert worden ist, weil er ein Video mit pornografischem Inhalt gedreht hat. Der Autor gibt dieser Rolle wenig Text. Was die Noch-Schauspielstudentin Eva Habenicht daraus macht, ist spannend. Verschlossen gegen die Erwachsenenwelt stellt sie sich gegen diese, ohne etwas von sich selbst preiszugeben, ein mächtiger Protest. Habenicht spielt das wunderbar aus. Das Ende von den „Verlorenen“ ist dramatisch: Florentin drängt seine Mutter aus dem Fenster. Sie stürzt und stirbt – Kimmig zeigt es dezent in einem Video (von Oliver Helf produziert). Trotz der Distanz, die dieses Mittel schafft, geht der Schluss tief unter die Haut – wie die ganze Inszenierung.