von links nach rechts: Leon Pfannenmüller, Henrike Commichau, Anna K. Seidel, Pina Bergemann, Nikita Buldyrski und Linde Dercon

Scheiße vor, auf und hinter der Bühne

Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfannenmüller, Anna K. Seidel: Die Hundekot-Attacke

Theater:Theaterhaus Jena, Premiere:27.10.2023

Klassisches Repertoire kommt am jüngst mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichneten Theaterhaus Jena  nicht auf die Bühne, dafür aber eigene Stückentwicklungen. Seine letzte Saison eröffnet das derzeitige Ensemble mit einer reflektierten Inszenierung rund um die Themen Kunst und Kritik mit dem real erfolgten Angriff eines Künstlers auf eine Kritikerin als Aufhänger.

„Wir sind zu keinem Ergebnis gekommen“, so startet eines der Ensemblemitglieder des Theaterhaus Jena die Premiere von „Die Hundekot-Attacke“. Es gibt zwei Hauptfiguren, den „Choreografen“ und die „Kritikerin“, beide treten selbst nicht als Rolle in Erscheinung. Anlass ist der Vorfall, der sich vergangenen Februar im Foyer der Staatsoper Hannover ereignete: Choreograf und ehemaliger Ballettchef in Hannover, Marco Goecke, schmierte FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster Hundekot ins Gesicht, danach habe man sich „im gegenseitigen Einverständnis” von Goecke getrennt, so damals die Intendantin Laura Berman.

Der Clickbaiting-Trick

In der Aufführung geht es nicht darum, ein Urteil zu fällen. Die Inszenierung rückt von der eigentlichen Tat weg und lenkt hin zu allgemeinen Fragen um Kritik und Kunstverständnis in der Theaterwelt. Und Regisseur Walter Bart nimmt das Ereignis mit dem Ensemble um Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfannenmüller und Anna K. Seidel als Aufhänger für überregionale (Medien-)Aufmerksamkeit, das Provinzstädtchen-Theater möchte sich in die Headlines katapultieren und das gelingt auch in der realen Welt: eigene dpa-Meldung und Verbreitung der Stück-Premiere durch die Süddeutsche Zeitung, die ZEIT oder die FAZ. „Mockumentary am Theaterhaus Jena“ lautet die Headline beispielsweise des NDR. Eine „Verspottung“ wäre aber eine eher einseitige Perspektive auf die Stückentwicklung, die zwar ironisch aber gleichzeitig nachdenklich die Auseinandersetzung von Kunst, Kritik und Clickbaiting reflektiert.

So zeigen die Darsteller:innen die Beschäftigung des Vorfalls als Probenprozess auf der Bühne, der fast das Ensemble sprengt. Es geht um Macht hinter und auf der Bühne sowie über das Theater hinaus. Der Text ist ein Mailverlauf der Schauspieler:innen von der Idee bis zum Tag der Premiere. Darin vermischen sich Diskussionen und persönliche Gedanken, ob man beispielsweise Kritiken über sich selbst überhaupt liest und wie sehr sie eine:n als Künstler:in beeinflussen. Und machen sich die Beteiligten durch die Aufführung nicht selber zu Personae non gratae? Es gibt auch einen einseitigen Mailverkehr des Ensembles mit „Der Kritikerin“ und „Dem Choreographen“: „Ich würde gerne die Dimension dieses Übergriffs aus Ihrer Perspektive noch besser verstehen.“ oder „Lieber Choreograph, […]„ich glaube du bist auch ein Opfer. Aber vor allem natürlich ein riesen Rindvieh.“

Wieso Kritik?

Zum Schluss folgt ein mit Linde Dercon als engagierte Choreografin geprobter Tanzteil als physischer Ausdruck des ganzen zuvor verlesenen Mailverlaufs. Die bis dahin szenisch doch recht unspektakuläre Aufführung nimmt nun Fahrt auf und die Schauspieler:innen zeigen eine zuckend mokierende und zugleich ernsthafte Darbietung. Pfannenmüller mit Sonnenbrille als der Choreograf erkennbar, nimmt einen Löffel braunes Pulver in den Mund, pustet ihn wie ein Feuerschlucker in die Luft, eine andere Darstellerin wälzt sich darin, drückt ihr Gesicht in die „Scheiße“. Das als Verweis auf die Überlegung: „Er hätte sich den Kot selbst ins Gesicht schmieren können mit dem Satz ‚So fühle ich mich durch Ihre Kritik.‘“ 

Die Inszenierung weitet den Blick von der Bühne auf Konflikte im Probenprozess, auf Möglichkeiten von Häusern und die Berichterstattung. Welche Verantwortung tragen Theaterkritiker:innen gegenüber der Leserschaft und den Künstler:innen, gegenüber den Theatern? Schließlich geht es mir selbst als Kritikerin nicht darum, nach einer Aufführung ein Häkchen neben „gut“ oder „schlecht“ zu setzen. Ein Stück durch eigene Sympathie für ein Haus in den Himmel loben? Warum? Künstler:innen aus eigenem Frust heraus verreissen? Wofür? Kritisch und einordnend berichten? Unbedingt! Letztendlich treiben uns, die Redaktion der Deutschen Bühne, anhand jüngster Kritiken besagter Kritikerin gerade intensive Diskussionen um diese Fragen um.