Foto: Justine (Delia Rachel Bauen) im Auftrag des Geheimdienstes. © Karl Forster
Text:Manfred Jahnke, am 17. Mai 2025
Stephan Thiel inszeniert am Landestheater Schwaben Dawn Kings „Chiffren“. In dem Stück treffen Geheimdienstintrigen auf Familienbande. Erfahrungen und Ermittlungen, Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. Am Ende bleibt unklar, was die ganze Wahrheit ist.
In „Chiffren“ spielt die junge britische Autorin Dawn King raffiniert mit den Elementen eines Spionagethrillers. Das Vielsprachentalent Justine verdingt sich dem englischen Geheimdienst. Sie soll auf der Suche nach einem Terroristen Kareem ausfragen und landet nach dessen Verschwinden bei einem russischen Diplomaten, der wiederum auch als Spion arbeitet. Als sie tot in ihrem Zimmer aufgefunden wird, wird Selbstmord vermutet. Die Schwester von Justine, Kerry, glaubt nicht daran und macht sich auf eine schwierige Spurensuche.
Im Strudel der Zeit
King erzählt nicht linear, sondern in Sprüngen. Gegenwart und Vergangenes werden kräftig gemixt, viele Spuren ausgelegt, bis sich am Ende der Tod von Justine als Eifersuchtsdrama auflöst: Anoushka zwingt sie, Gin mit Gift zu trinken, denn Justine hat sich in den Künstler Kai verliebt. Der ist aber eigentlich schon mit Anoushka verheiratet und will sie für Justine verlassen. Die wiederum hat auf Druck von Sunita, ihrer Vorgesetzten beim britischen Geheimdienst, schon auf ihre Liebe verzichtet. So, wie King ständig zwischen den Zeitebenen springt, so wechselt sie auch ständig die Erzählperspektiven. Dabei schält sich mehr und mehr die Sicht von Kerry heraus, die herauszufinden versucht, was mit ihrer Schwester passiert ist. Sie muss dabei feststellen, dass sie kaum etwas vom Leben Justines wusste: Wer war sie?
Um das Spiel mit den Identitäten voranzutreiben, arbeitet King mit Doppelrollen. So werden Justine und Kerry von einer Spielerin vorgeführt. Mit diesem Kunstgriff gelingt es der Autorin eine flirrende Spannung zu schaffen: Identitäten lassen sich kaum mehr fassen, zumal ein hohes Spieltempo vorherrscht. Das Bühnenbild von Halina Kratochwil – auf einem weißen Podest stehen zwei weiße Säulen – scheint einen schnellen Zugriff zu unterstützen. Im Verlauf des Spiels erweisen sich diese Säulen in einer aufwändigen Umbau-Choreografie als zwei rechteckige Wände, die vom Ensemble in wilden Kreisen bewegt werden, um neue Räume zu schaffen. Die Regie von Stephan Thiel am Landestheater Schwaben entwickelt dabei zu harten rhythmischen Klängen ein Bewegungsritual, das sich zu verselbständigen droht.
Ensemble in vollem Einsatz
Mit Begeisterung wirft sich das junge Memminger Ensemble auf diese Choreografie. Delia Rachel Bauen spielt das Doppel Justine/Kerry. Justine im Military-Look (Kostüme: Halina Kratochwil); Kerry ohne Jacke und mit offenem Haar und viel emotionaler als die Schwester. Als Justine wirkt sie zunächst sehr zurückhaltend, moralisierend nach dem Verschwinden Kareems. Bis ihr dann in der Begegnung mit Kai zärtliche Momente gelingen. Bei Koplov, dem russischen Diplomaten, wirkt sie durch ihr Sexappeal: Kurz, in ihren Verhaltensweisen passt sie sich chamäleonartig ihrem jeweiligen Partner oder ihrer Partnerin an. Die Rolle als Kerry wird währenddessen durch die Suche nach den Gründen für den Tod ihrer Schwester bestimmt.
Roberta Monção spielt die Geheimdienstchefin Sunita aus überlegener Distanz. Als Anoushka ist sie eine argwöhnische Ehefrau, die genau weiß, was sie für ihre Ehe tun muss. Felix Bronkalla verkörpert als Kareem einen Mann, der dem Ansinnen des Geheimdienstes zu widerstehen versucht, dann gebrochen nachgibt. Als Künstler Kai spielt er den hemdsärmeligen Kumpel, der zwischen Ehefrau und Geliebten zappelt. Die Doppelrolle Peter/Koplov ist mit Joscha Schönhaus besetzt. Besonders dem russischen Diplomaten gibt er wunderbar aasige Töne.
Gegen Ende findet die Inszenierung von Stephan Thiel ein starkes Bild: Er konfrontiert Kerry mit den Bildern ihrer Schwester, Erinnerung wird gegenwärtig, zerfließt zugleich wieder.