
Der Meister inszenierter Traumata
Foto: Vasily Barkhatov beim Covershooting vor der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf © Tobias Kruse/Ostkreuz Text:Ulrike Kolter, am 14. September 2024
Der russische Regisseur Vasily Barkhatov inszeniert seit gut zehn Jahren in Deutschland und wird für seine detailreichen, psychologisch ausgefeilten Arbeiten gefeiert. Ein Treffen in Düsseldorf.
Er gilt in der deutschen Theaterszene als Regie-Shootingstar im Musiktheater, seine letzten Inszenierungen an der Deutschen Oper Berlin, der Oper Frankfurt, am Theater Bonn oder an der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg begeisterten Publikum wie Feuilleton gleichermaßen. Trotzdem zeigt der 41-jährige russische Regisseur keine Starallüren: So angenehm ruhige Gespräche wie mit Vasily Barkhatov führt man selten, vielleicht, weil wir uns beide nicht in unserer Muttersprache austauschen. Mit Sicherheit aber, weil Vasily Barkhatov mit bedachtem Ausdruck aufgewachsen ist und sprachliche Bilder sehr bewusst einsetzt: Er entstammt quasi einer Dynastie von Schriftstellern und Journalisten.
Sein Vater – Autor historischer Bücher – war Chefredakteur eines sowjetischen Literaturmagazins, der Großvater Fotograf und Journalist, ein Onkel Kriegsberichterstatter. Mutter, Schwester, Cousine – alle Journalistinnen. „Es war keine Rebellion, aber ich wollte nicht der 150. Barkhatov sein, der die Journalisten-Fakultät der Moskauer Uni besucht“, lacht er. So wuchs er mit Literatur auf, liest bis heute „ein Buch nach dem anderen“ und bekam musikalische Grundkenntnisse auf der Balalaika, weil seine Hände da noch zu klein fürs Wunschinstrument Gitarre waren.
Opernregie: Was soll ich da tun?
Wenn man Vasily Barkhatovs Inszenierungen heute sieht, seine detailreiche Arbeit mit Solisten und Chor, stets nah an der Partitur, dabei hochemotional und psychologisch ausgefeilt, dann erstaunt der fremdgesteuerte Weg, den er ins Musiktheater genommen hat: Mit Oper hatte er wenig am Hut, fand sie Ende der Neunzigerjahre in Moskau langweilig, statisch, primitiv. „Die Oper war eingefroren im Ende des 19. Jahrhunderts. Das Schauspiel hingegen war modern, symbolistisch, viele zeitgenössische Autoren wurden gespielt.“ Eigene Ambitionen, in einen künstlerischen Beruf zu gehen, hatte Vasily Barkhatov da noch nicht, wollte lieber eine Computerfirma gründen. Doch sein Vater brachte ihn mit einer Professorin der Moskauer Kunsthochschule zusammen, um herauszufinden, ob denn der Junge kreatives Potenzial habe. Es begannen regelmäßige Treffen mit ihr, und der Wunsch erwuchs, Schauspielregisseur zu werden. „Als sie mich fragte, ob ich ihr Student in Opernregie werden wolle, dachte ich: In der Oper gibt’s doch gar keine Regie, was soll ich da tun?“
1983 in Moskau geboren, hat Vasily Barkhatov mit 22 Jahren als jüngster Regisseur am Bolschoitheater inszeniert – und mit 33 dann die Uraufführung von Aribert Reimanns „L’Invisible“ an der Deutschen Oper Berlin verantwortet.
Peter Konwitschny und Berlin: Eine Offenbarung
„Im Grunde hat diese Professorin meinen Weg in die Oper besiegelt. Ich habe nicht schon als Kind mit Legofiguren den ,Parsifal‘ nachgespielt.“ Aber durch sie beginnt er, in dieses Universum einzutauchen, sieht Videomitschnitte (YouTube gab es noch nicht) von Herbert Wernicke, den „Ring“ von Patrice Chéreau und Peter Konwitschnys „Aida“. Als dann ein Lehrer eine Studienreise nach Berlin organisiert, sammelt Barkhatov Geld bei allen Verwandten. Diese zwei Wochen Berlin verändern alles. „Tagsüber saß ich in der Komischen Oper bei den Proben zu ,Don Giovanni‘ von Peter Konwitschny, abends besuchte ich die Berliner Theater, sah alles von Marthaler bis Neuenfels. Nach dieser Reise wusste ich: Mit Theater lässt sich alles in einer eigenen Sprache erklären. Alles ist möglich!“
So schließt er 2005 sein Regiestudium am Russischen Institut für Theaterkunst ab, inszeniert an kleineren Theatern, trifft auf Valery Gergiev und arbeitet mit ihm am Mariinski-Theater zusammen. „Die Zeit war reif für Neues. Dmitri Tschernjakow, der zehn Jahre älter ist als ich, wurde damals fast gekreuzigt für die Art von Theater, die er dort hinbrachte! Er war wie ein Eisbrecher für mich, und ich schwamm hinterher. Ich bin ihm und diesem Theater sehr dankbar.“
„L’invisible” und die Verantwortung gegenüber dem Komponisten
Schauspiel hat Vasily Barkhatov bisher nur drei Mal inszeniert – eines davon führte ihn nach Deutschland: Seine St. Petersburger Version von Schillers „Kabale und Liebe“ kam als Gastspiel ans Staatsschauspiel Dresden. Der damalige Chefdramaturg der Mannheimer Schillertage lud ihn daraufhin nach Mannheim ein und stellte ihn dem Intendanten Klaus-Peter Kehr vor. Berlioz’„La damnation de Faust“ wurde am Nationaltheater Mannheim 2015 Barkhatovs erste Operninszenierung in Deutschland. Es folgte Mussorgskis „Chowanschtschina“ 2015 in Basel, Zimmermanns „Soldaten“ bei den Maifestspielen Wiesbaden und eben die Reimann-Uraufführung „L’Invisible“ 2017 in Berlin. „Ich war so nervös. Man ist verantwortlich für ein Werk, mit dem der Komponist vielleicht zehn Jahre seines Lebens verbracht hat – ich höchstens eins. Ich wollte ihm nicht alles ruinieren.“ Als sich die beiden während der Proben in Berlin treffen, besprechen sie auch eine Szene, die autobiografisch den Tod von Reimanns kleinem Bruder im Bombenhagel auf das Krankenhaus, in dem dieser lag, verarbeitet, der junge Regisseur begreift seine Verantwortung. Doch Reimann ist einverstanden mit Barkhatovs symbolistischer Deutung – die Presse wird später einen surrealen, faszinierenden Psychothriller loben.
Seinen „Fliegenden Holländer“, der aktuell an der Düsseldorfer Rheinoper zu erleben ist, zeigt er ebenfalls als Psychogramm – hier mit Fokus auf Senta, die schon als kleines Mädchen den Holländer in einem gleichnamigen Kinofilm anhimmelt. Der Abend erzählt den Seefahrermythos in einer Shoppingmall mit Kino, wo der Blockbuster vom „Fliegenden Holländer“ läuft. Unterhaltsam-opulent, perfekt getimt mit sekundenschnellen Umbauten zwischen Kinosaal mit Publikum und den filmisch überblendeten Seefahrerszenen mit Chor und Solisten, sind Realität und Fiktion Sentas in ihrem krankhaften Holländer-Fankult kaum zu trennen.
Ein Werk immer weiterdenken
Schon bei seinem früheren St. Petersburger „Holländer“ gab es diese Cinema-Idee. Es ist typisch für Vasily Barkhatov, Inszenierungen weiterzuentwickeln: „Wenn ich ehrlich zu einem Stück bin, kann ich es nur in einer Weise erzählen, Details verändern, es weiterdenken, aber es bleibt die gleiche Produktion. Ich kann ein Werk nicht zehn Jahre später plötzlich nach Japan versetzen.“
Auch Tschaikowskys „Eugen Onegin“ hat er mehrfach inszeniert, zuletzt am Theater Bonn als lebendiges Bild russischen Landlebens – mit einem grandios geführten Chor. Überhaupt scheint ihm das Arbeiten mit großen Ensembles zu liegen, nie gibt es Statik oder gruppenkonformes Agieren, nie Langeweile beim Zuschauen. So prägt auch den Bonner „Onegin“ trotz aller Tragik eine große Leichtigkeit. Man kann sich nicht sattsehen an all den szenischen Miniaturen, jede Geste ist Teil des Ganzen.
Das passt zur strukturierten, stets vorbereiteten Arbeitsweise des Regisseurs: „Wenn ich nicht exakt weiß, was der kleine Finger machen soll, kann ich nicht zu einer Probe gehen. Ich glaube, es ist auch leichter für alle Beteiligten, wenn ich weiß, was kommen soll, und nicht dieses ,Lass uns mal das Universum fragen, was wir jetzt in dieser Szene tun…‘“, schmunzelt er. „Das muss ich schon nachts mit mir selbst ausfechten.“ Dabei ist er kein Kontrollfreak und lässt Freiheiten: „Ohne die Mitgestaltung der Solisten funktioniert es nicht.“
Deutsche Diskurse oder: Vom Sterben für die Kunst
Hat er denn die Diskurse um mehr Familienfreundlichkeit an deutschen Theatern mitbekommen? Die Forderungen nach weniger Hierarchien, Abschaffung von Samstagsproben? „Ich bin anders erzogen worden, nehme das Theater und meine Produktionen todernst. Klar, am Ende des Tages ist es nur Theater. Ich würde gern weniger Nerven lassen. Andererseits bin ich neidisch auf all das. Heute gibt’s nicht mehr diese Einstellung, für etwas sterben zu wollen: für die Wissenschaft, für die Kunst, für das Theater. Das ist einerseits gut, warum immer leiden müssen? Andererseits muss es eine Balance geben. Die Arbeit muss getan werden! Wenn alles freitags fertig wird, muss man samstags nicht proben. Aber es braucht Respekt vor dem Ergebnis.“
Über allem hängt die Frage, wie es ist, in diesen Zeiten als russischer Regisseur in Europa zu arbeiten. „Es wäre kindisch, keine Verantwortung zu übernehmen, obwohl ich sachlich betrachtet keine Verantwortung habe. Aber diesen Kontext muss ich immer im Hinterkopf behalten.“ In einem Interview mit dem Magazin der Deutschen Oper Berlin sagte Barkhatov im letzten Jahr: „Ich möchte mich nicht schämen, Russe zu sein.“ Gleichzeitig stellt er infrage, wie er im Angesicht des Ukrainekrieges noch weiter inszenieren kann. „Vielleicht will ich einfach ein Gleichgewicht herstellen. Daran erinnern, dass es nicht nur russische Raketen und Panzer gibt, sondern auch die Welt der wunderschönen russischen Literatur, der Musik, des Theaters.“ Ob Regisseur-Sein per se etwas Politisches ist? „Das ist eine Frage der Begrifflichkeit. Ich bin nicht gut in politischem Theater. Konwitschny oder Serebrennikov, die wissen, wie man das ästhetisch sehr gut macht, ohne plakativ zu werden. Meine Sache ist eher, psychologisch Traumata zu inszenieren. Aber ich nutze den Kontext. Ich bin ein russischer Opernregisseur. Wenn ich jemand anders sein wollte, wäre das ein Desaster.“
In der kommenden Spielzeit wird Vasily Barkhatov mit „Norma“ sein Debüt an der Staatsoper Berlin geben – eine Koproduktion mit dem Musiktheater an der Wien – und im Juni 2025 mit „Rusalka“ erneut an der Deutschen Oper am Rhein inszenieren. Man darf gespannt sein.
Vasily Barkhatov: studierte Regie am Russischen Institut für Theaterkunst in Moskau. Inszenierungen führten ihn nach St. Petersburg, ans Bolschoitheater Moskau und an die Litauische Nationaloper. Seit 2014 inszenierte er u. a. in Mannheim, Wiesbaden, Basel, am Theater Bonn, der Deutschen Oper Berlin und bei den Bregenzer Festspielen.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 5/2024.