Saisonvorschau 2025/26

Welche Trends stehen an in Schauspiel, Musiktheater, Tanz, dem Kinder- und Jugendtheater und Puppentheater? Wichtige Premieren und Personen. Im Interview: Tobias Kratzer, neuer Intendant der Staatsoper Hamburg.

aus Heft 05/2025 zum Schwerpunkt »Saisonvorschau 2024/25«

Tobias Kratzer wird zur neuen Spielzeit Intendant der Staatsoper Hamburg. Ein Gespräch über Zeitgenossenschaft, historisches Einordnen von Repertoire, offene Generalproben und Kinderoper als Chefsache

DIE DEUTSCHE BÜHNE Herr Kratzer, Sie sind studierter Kunsthistoriker. Beeinflusst das Ihre Perspektive beim Inszenieren?

Tobias Kratzer
Ich wollte zuerst Regie studieren, aber nicht schon mit 23 Jahren von dem Betrieb gefressen werden, und bin dann erst mal bei Kunstgeschichte hängen geblieben. Es ist ein Fach, das ungeheuer den Blick schult! Die Narration eines klassischen Tafelbildes, das an sich schon einer Bühnentotalen ähnelt, die genaue Beobachtung der Konstellationen darin – das ist der Regie sehr nahe. Und es ist Übersetzungsarbeit: ein anachronistisches Artefakt zu entschlüsseln und zu aktivieren, sodass es auch zu einem heutigen Betrachter noch spricht, das ist eine große Parallele.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Wenn wir schon bei Gattungsparallelen sind: Inwiefern wird die Hamburgische Staatsoper in Ihrer ersten Saison vom Schauspiel und seinen Entwicklungen beeinflusst? Von Jelinek, Rüping oder Marthaler, die alle im Spielplan auftauchen?

Tobias Kratzer Ich habe in München Schauspiel- und Opernregie studiert, weil dort der einzige Studiengang war, der beides anbot. Als Grundlage in der Regiearbeit mit Sänger:innen ist das basal. Ehrlicherweise sind es aber zwei völlig verschiedene Jobs! Es gibt Sonderbegabungen, die beides können, aber das sind Ausnahmen wie Jossi Wieler. In der ersten Spielzeit hier habe ich bewusst Mar­thaler und Rüping gebeten, keine integralen Werke neu zu interpretieren, sondern aus bestehender Musik einen Abend neu zu konstruieren, einen Rhythmus, eine Form zu finden (Anm. d. Red: Christopher Rüping inszeniert „Die große Stille“ als Mozart-Musiktheaterprojekt). Das war mir wichtig im Rahmen eines Repertoirebetriebes. Jelinek schätze ich als Autorin sehr, vor allem aber wollte ich die beiden Damen – Komponistin Olga Neuwirth und Elfriede Jelinek als Librettistin – noch einmal zusammenbringen, nachdem sie zuletzt vor 20 Jahren zwei epochale Musiktheaterwerke geschaffen haben. Ich habe viele Werke des 19. Jahrhunderts inszeniert. Und man stößt in der Übersetzung immer wieder auf ähnliche Problemstellungen, Geschlechter- und Gesellschaftsbilder. Da finde ich es erfrischend, für Uraufführungen mit Autor:innen zusammenzuarbeiten, wo man auf einer zeitlich ähnlichen Bewusstseinslage in den Dialog geht. Deshalb wollte ich in der ersten Spielzeit eine Uraufführung und die Kinderoper einer lebenden Komponistin zeigen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Sie treten nicht nur Ihre erste ­Festanstellung, sondern gleich eine Intendanz an in einem der wichtigsten Opernhäuser Europas. Als Regisseur haben Sie immer wieder den Spagat geschafft, werkgerecht und dabei unterhaltsam frisch zu arbeiten. Man traut Ihnen offenbar zu, auch diesen Tanker hier zu leiten?

Tobias Kratzer Ich wurde für dieses Haus gefragt – das hat mich überrascht, weil ich hier in Hamburg noch nie gearbeitet hatte. Mein Konzeptpapier stieß dann auf großen Zuspruch der Stadt. Ich bin kein Off-Künstler: Die Art von Theater, die ich mache, braucht den großen Apparat. Aber ich habe ein tolles Team, meine Operndirektorin Bettina Giese bringt viele internationale Kontakte mit. Ohne dieses enge Team wäre ich nicht angetreten. Ich bin kein Experte für Verwaltungsrecht oder Agenturkontakte. Aber was ich mache, in einer großen Form mit Sinn, Leichtigkeit und Witz, das passte hierher.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Haben Sie sich auf die Leitungsfunktion vorbereitet?

Tobias Kratzer Ich habe tatsächlich viel gefragt, mir ein breites Meinungsspek­trum von Kollegen eingeholt, auch wenn natürlich jedes Haus anders tickt. Und ich habe von Beginn an wahnsinnig viele Gespräche geführt, um zu begreifen, wie man hier arbeitet. Und das ganze Repertoire angeschaut …

DIE DEUTSCHE BÜHNE Wo liegt der Reiz für Sie, nicht mehr „frei“ zu inszenieren, sondern in diesen Zeiten Verantwortung für über 600 Mitarbeitende zu übernehmen?

Tobias Kratzer Zunächst die Gestaltungsmöglichkeiten, jenseits einer einzelnen Inszenierung eine größere ästhetische Linie zu prägen. Nach dem Ausscheiden von Jossi Wieler in Stuttgart und Barrie Kosky in Berlin gibt es in der deutschsprachigen Opernkonferenz kein Opernhaus mehr, das von einem Künstlerintendanten geführt wird! Es muss nicht jedes Haus von einem Künstler geführt werden. Aber für das Spektrum der Theaterlandschaft finde ich es wichtig, da in die Verantwortung zu gehen. Letztlich war ich auch einfach neugierig und wollte noch ein paar andere Hirnareale aktivieren. (lacht) Ich baue auf die Hamburger Kulturpolitik: Weil ich gefragt wurde, konnte ich ehrlich sein: Das kann ich, da brauche ich Unterstützung. Weil ich Quereinsteiger bin, weiß man um meine Qualitäten. Klar wird auch der Name als Imagetransfer gekauft, aber die Stadt wollte einen Künstlerintendanten, um dem Haus eine klare Linie zu geben. Deshalb ist das ganze Fünfjahresprogramm eine Art Inszenierung.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Die Struktur der Staatsoper Hamburg ist nicht ganz einfach …

Tobias Kratzer Speziell könnte man sagen. Wir haben eine GmbH mit drei gleichberechtigten Geschäftsführern, der Ballettintendant ist gleichrangig mit dem Opernintendanten, dazu der geschäftsführende Direktor. Die Dachmarke ist Hamburgische Staatsoper, dann gibt’s die beiden Untersparten Staatsoper Hamburg und Hamburg Ballett. Das Orchester ist ein Landesbetrieb, deshalb ist Omer Meir Wellber GMD der Staatsoper und des Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Wichtiges wird im Dreierkollektiv entschieden. Nun gemeinsam ein Spielzeitheft und eine Webseite zu haben ist ein großer Schritt für Oper und Ballett.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Es wird neun Neuinszenierungen geben, 19 Stücke bleiben im Repertoire – also gut zwei Drittel. Ist es schwer, einen Neuanfang zu positionieren in einem solchen Repertoirehaus?

Tobias Kratzer
Tatsächlich ist die Setzung aus Hamburger Warte andersherum: Wir spielen nicht mehr 26 Repertoirestücke, sondern „nur noch“ 19. Außen- und Innenwahrnehmung sind da sehr unterschiedlich – da musste ich viel ausfechten. Das hat auch mit der Dynamik von Abos und Serien zu tun, ein strukturelles Problem. An das Abosystem wollte ich in der ersten Saison nicht ran, und mit sieben Wiederaufnahmen weniger will ich das Haus entlasten, nicht so legebatteriemäßig agieren. Und wenn wir die 19 noch spielen, setzen wir uns damit auch auseinander.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Sie betonen die Relevanz von Repertoire und den jeweils verantwortlichen Spielleiter:innen. „Jeder Abend ist Premiere“ ist ein starkes Statement …

Tobias Kratzer Absolut! Der oder die Zuschauende möchte einen guten Abend erleben – vielleicht das einzige Mal pro Jahr in einer Oper. Der Anspruch an Präzision und sängerische Qualität, der sollte immer gleich sein, nicht nur für die vom Feuilleton besuchten Premieren.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Das neue Konzept „Framing the Repertoire“ will das große, teils alte Repertoire im Spielplan kontextualisieren. Wie soll das ablaufen?

Tobias Kratzer Das Repertoirehaus ist die prädominante Form im deutschen Opernsystem. Oft wird damit zu unreflektiert umgegangen, alle Aufmerksamkeit ruht auf der Premiere, das Repertoire wird nur pflichtschuldig absolviert. Aber das entspricht nicht der Wahrnehmung des „Normalbesuchers“, der spontan ins Theater geht. Opernregie hat eine eigene Geschichtlichkeit, die man einordnen muss. Deshalb begleiten wir mit Vorträgen und Gesprächsrunden, um vielleicht schwierig gewordene historische Inszenierungen als Chance zu begreifen, Historizität zu dekodieren.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Wie stark haben Sie das Ensemble neu zusammengestellt?

Tobias Kratzer Von 25 habe ich nur sechs ausgetauscht. Da sind viele, die man spannend weiterentwickeln kann. An diesem Haus gibt es viele Gäste, da muss man das Ensemble nicht komplett umstricken wie bei mittelgroßen Häusern.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Gibt es sonst strukturell oder personell große Veränderungen?

Tobias Kratzer
Die Pädagogik wurde an die Dramaturgie gekoppelt, und ich habe die Dramaturgie erweitert: von eineinhalb auf drei Operndramaturg:innen. Insgesamt sind Stellen jetzt eher funktional gedacht, für beide Sparten. Und es gibt eine neue Operndirektorin.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Werden Sie noch andernorts inszenieren?

Tobias Kratzer
Ich mache in München den „Ring“ zu Ende, der war vereinbart. Ansonsten werde ich in den nächsten fünf Jahren in Deutschland nur in Hamburg inszenieren, als Gast in dieser Zeit nur im Ausland oder in Koproduktionen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Das Programm „CLICK-in“ will die Verbindung zur Stadtgesellschaft stärken, die Formate sind vielfältig: Education, Debatte oder Opera mobile mit einem ausgebauten Minivan für kleine Musiktheaterproduktionen. Das klingt personalaufwendig, aber vielversprechend. Zum Beispiel können Studierende kostenfrei in Generalproben gehen, nur via Anmeldung per Mail …

Tobias Kratzer In Turin und Paris habe ich das kürzlich erlebt: Die Generalproben sind offen, aber die Leute kommen ja trotzdem hinterher in die Vorstellungen! Ich bin davon total überzeugt. Wir nennen das „Sneak Club“, und unsere Dramaturgie nimmt das in die Hand. Das muss sich herumsprechen, aber grundsätzlich soll jeder in der Stadt die Chance haben, eine Produktion zu sehen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Schon Ihre zweite Inszenierung wird eine Kinderoper, „Die Gänsemagd“ von Iris Ter Schiphorst …

Tobias Kratzer
Ja, das ist Chefsache, mit den Stars des Ensembles! Und die Kids sollen sehen, dass Komponisten noch leben können und auch weiblich sein können. Zeitgenössisch geht es dann weiter mit „Stockhausen für Kinder: Michaels Reise“, inszeniert von Tatjana Gürbaca.

DIE DEUTSCHE BÜHNE Im Spielzeitheft sprechen Sie von „Empathie erzeugen, die auch der Reflexion standhält“: Auf der Weltbühne ist Empathie gerade gar nicht angesagt. Wie sehen Sie da die Perspektiven für die Kunst?

Tobias Kratzer
Eine der großen Möglichkeiten von Theater, besonders der Oper ist, dass sie einen nicht nur diskursiv packt, sondern emotional, sogar körperlich. Diese Emotionalität bringt einen in ganz andere Bereiche des eigenen Selbst. Man wird dadurch vielleicht kein besserer Mensch, aber ein reflektierterer Mensch, sieht anders auf die Welt und seine Mitmenschen.

Tobias Kratzer, geboren 1980 in Landshut, studierte Kunstgeschichte und Philosophie in München und Bern sowie Schauspiel- und Opernregie an der Bayerischen Theaterakademie August Everding. 2018 erhielt er den Deutschen Theaterpreis DER FAUST für seine Inszenierung der „Götterdämmerung“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Zur Spielzeit 2025/26 übernimmt er die Intendanz der Staatsoper Hamburg.

 

Dieses Interview ist erschienen in Heft 5/2025 der DEUTSCHEN BÜHNE.