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Zwischenwelten

Mary Wigman/Marco Goecke/Mauro de Candia: Danse Macabre

Theater:Theater Osnabrück, Premiere:11.02.2017

Die Choreographin Mary Wigman mag 1917 ihren „Totentanz I“ vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges kreiert haben, und auch 1921, als sie ihn erneut herausbrachte, hatte die Auseinandersetzung mit dem Übergang zwischen Leben und Tod nicht an Gültigkeit verloren. Dass das Theater Osnabrück heute, 100 Jahre später, eine Rekonstruktion dieser Choreographie sowie des 1926 uraufgeführten „Totentanz II“ von Wigman leisten kann, ist wesentlich der Förderung des Tanzfonds Erbe, einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes, zu verdanken, die sich seit 2011 der historischen Aufarbeitung von Werken aus den frühen Jahren des modernen Tanzes verschrieben hat. Freilich eignen sich thematisch zeitlose Arbeiten wie diese besonders für die Rückbesinnung auf die historische Dimension des modernen Tanzes. Das Theater Osnabrück widmet sich nach einer Rekonstruktion mit Mary Wigmans „Le Sacre du Printemps“ im Jahr 2013 (siehe hier unsere Kritik) bereits zum zweiten Mal der großen Ausdruckstanz-Protagonistin Wigman. In diesem Fall ist die rekreative Arbeit des Theaters mit einem beeindruckenden interdisziplinären Kulturangebot in der Stadt verbunden; mehrere Ausstellungen, Lesungen, Vorträge und Konzerte befassen sich vom 11. Februar bis 25. Juni 2017 mit dem Thema Tod bzw. im Besonderen mit dem Totentanz, dem „Danse Macabre“. So lautet auch der Titel des dreiteiligen Tanzabends, der neben den beiden Rekonstruktionen ein thematisch andockendes Stück von Marco Goecke („Supernova“, das er 2009 für das Scapino Ballet in Rotterdam kreierte) und die Uraufführung von Mauro de Candias Version des Frühlingsopfers beinhaltet.

Allein die beiden Totentänze von Mary Wigman unterscheiden sich stark: „Totentanz I“ entwarf Mary Wigman zur Musik von Camille Saint-Saëns, dessen sinfonische Dichtung „Danse Macabre“ trotz aller ihr innewohnenden Dramatik von einer Art getragenen Heiterkeit durchzogen ist, an die sich auch Wigmans Choreographie bzw. die Rekonstruktion anlehnt. Zu hören ist die Fassung für zwei Klaviere, die aufgrund einer kurzfristigen Erkrankung einer Pianistin am Premierenabend leider vom Band kommen muss. Vier Tänzer – unter ihnen war damals auch Wigman selbst – erobern in der rund 15 Minuten dauernden Arbeit mit harlekinartigen Kostümen die Bühne. Ihre großen spitzen Hüte, flatternden Gewänder und die Sprünge mit oft breit aufgestellten Beinen lassen eher an Kobolde denken als an Geister oder gar Untote. Der körperliche Ausdruck ist stark rhythmisiert, wie es für Mary Wigman typisch war. Deutlich düsterer und formalisierter dagegen der „Totentanz II“, was durch die expressionistische Schlagwerk-Musikbegleitung (Frank Lorenz, Mitglied des Osnabrücker Symphonieorchesters) extrem verstärkt wird. Die Toten, zum Leben erweckt von einer dämonischen Figur, die alle Bewegungen auf der Bühne steuert, tragen Totenmasken (Victor Magito), und die „Weibliche Gestalt“ (getanzt von Marine Sanchez Egasse) erinnert sogar entfernt an eine ägyptische Pharaonin. Kurz: Der Tod ist in dieser Arbeit allein in der Bildsprache deutlich präsenter. Durch die Gestalt des Dämons (Jayson Syrette) erfährt Wigmans „Totentanz II“ eine bedrohliche Atmosphäre. Die Tänzer liegen zu Beginn wie Leichen in Särgen auf dem Boden und sinken zum Schluss unter dem tänzerischen Hexen-Dirigat des Dämons wie erloschene Kerzen wieder in sich zusammen.

Mit wesentlich größeren Lücken beim Quellenmaterial als beim „Totentanz I“ musste das Rekonstruktionsteam um Henrietta Horn (verantwortlich), Susan Barnett und Katherine Sehnert hier umgehen, was verdeutlicht, wie sehr Aufarbeitungen wie diese zwangsläufig zu Neuinterpretationen werden. Vor allem die nachgebildeten, wallenden Kostüme und die Musik unterstreichen den historischen Charakter der Arbeit. Die eigentliche Choreographie, die Bewegungen der aufgescheuchten Gruppe der Untoten, der traurig sich windenden, weiblichen Gestalt, die immer wieder ihre Arme von sich streckt und nach oben öffnet, und die beschwörenden Gesten des Dämons, sie haben schon moderne Züge, sodass sie dem Zuschauer im Jahr 2017 bei aller historischen Distanz etwas zu sagen haben. So werden Rekonstruktionen zu einem sinnstiftenden und berührenden Erlebnis, erzeugen sie doch erst dort, wo der zeitlose, stilprägende Charakter des modernen Tanzes durchscheint, einen künstlerischen Ertrag.

Unerlässlich bleiben hierfür auch die modernen choreographischen Auseinandersetzungen mit dem Thema, die auch hier die historischen Teile des Abends ergänzen. Wahrlich elektrisierend ist Marco Goeckes 2009 entstandene Choreographie „Supernova“. Jede kleinste Bewegung scheint körperlicher Ausdruck eines letzten Aufbäumens zu sein, die Goecke-typischen, vibrierenden und rasend schnell geschüttelten Arme und Hände sowie trippelnden Füße zu den nahezu mechanisch steifen Beinen und Oberkörpern scheinen dem Sinnbild der Supernova, eines noch einmal hell leuchtenden, dann sich selbst zerstörenden Sterns, förmlich zu entsprechen. Immer wieder werden die Tänzer von der Dunkelheit der hinteren Bühne verschluckt, um dann unerwartet wieder daraus hervorzustoßen (das Konzept für das Licht hat der Designer Udo Haberland entwickelt, mit dem Goecke regelmäßig zusammenarbeitet), wie Sinnbilder beständig auftauchender und verschwindender Existenzen. Die Tänzer fräsen sich an diesem Abend mit ungeheurer Präzision durch das Jahrhundert der Tanzgeschichte, durch extrem unterschiedliche choreographische Handschriften, wofür man ihnen (wie auch dem Rekonstruktionsteam und seinen Anstrengungen) wahrlich Anerkennung schuldet.

Am Schluss folgte Mauro de Candias „Sacre“-Uraufführung. Der Leiter der Osnabrücker Dance Company hat dafür Strawinskys Fassung für zwei Klaviere zugrunde gelegt, hat sich jedoch choreographisch von dem ursprünglichen Szenario, dem rituellen Huldigungstanz und dem finalen Opfertod, weit entfernt. Ein einzelnes Opfer gibt es nicht, vielmehr soll wohl deutlich werden, wie wir alle heutzutage zu Opfern eines ritualisierten Alltags geworden sind. Doch gerade der ent-individualisierte Charakter des Rituellen blitzt in der Bewegungssprache leider nur momentweise auf, beispielsweise, wenn die Tänzer in einem sich immer enger schließenden Kreis agieren oder alle in derselben, liegenden Pose verharren. Zwischen diesen ästhetischen Lichtblicken zerfasert die Kreation leider oft ins Assoziativ-Beliebige, sie verdeutlicht zwar die Dissonanzen der Komposition, ist aber der dramatischen Ausdruckskraft der Musik in weiten Teilen nicht gewachsen. Etwas zögerlich wirkte auch der Applaus – der für „Supernova“ und die „Totentanz“-Rekonstruktionen deutlich begeisterter ausfiel.