Foto: Mariam Murgulia, Nerita Pokvytyte, Matthieu Svetchine, Annika Tudeer und Karin Enzler in "Obsessions" am Theater Bremen © Jörg Lands
Text:Jens Fischer, am 20. Februar 2022
Wenn der Drang das Leben beherrscht, wird der Fan zum Fanatiker, die Passion zur Obsession. Sie zum Klingen, Singen, Handeln, Tanzen zu bringen, das kann die gute alte Oper mit ihren saftigen Geschichten menschlicher Besessenheit. Das kann auch die zwanghaft immer wieder besonders neu sein müssende Neue Musik, verspricht das jüngste „NOperas!“-Projekt des Fonds Experimentelles Musiktheater vom NRW Kultursekretariat und der Kunststiftung NRW. Grundsätzlich Begeisterung schüren wollen sie für Uraufführungen, die mit performativen Mitteln die Neutöner unterstützen und aus der Insider-Ecke locken sollen.
Die Flucht nach vorn wird nun gleich befeuert mit dem emotional schwitzenden Thema für unsere von Zwängen befeuerte Zeit. „Obsession“ betitelt das finnische Künstlerkollektiv Oblivia seine Produktion. Yiran Zhao kreiert die Klangereignisse, die zur Premiere am Theater Bremen von einem Sextett der Philharmoniker unter der Leitung von Yu Sugimoto gespielt werden. Am 3. Dezember soll eine weiterentwickelte Fassung an der Oper Wuppertal herauskommen.
Vom kollektiven Rauschen zur Gefühlswallung
Bühne frei für die böse Leidenschaft mit ihren quälenden Zwangsvorstellungen. Aber durchgestartet wird nicht konkret mit handgreiflicher Vitalität und exzessiver Ausdruckskraft, sondern ganz dezent. Die Haare zum Dutt gebändigt beschreiten Matthieu Svetchine und Karin Enzler aus dem Bremer Schauspielensemble, die Sänger Timotheus Maas, Mariam Murgulia und Nerita Pokvytyte sowie die Performerinnen Annika Tudeer und Alice Ferl in römischen Gewändern die leere Spielfläche – majestätisch wie Cäsaren im Kapitol. Durchs Geschehen zischeln gehauchte Wind- und leise Pfeifgeräusche. Von der Bassbariton- bis zur Sopranstimmlage entwickelt das Ensemble aus einer solistisch intonierten Phrase einen voluminösen Gruppenklang. Die Perkussionistin knistert mit Plastikfolie. Auch lassen die Blasinstrumente immer mal wieder einen Ton flackern oder weben ein Melodiefragment ein. Wie in antiken Darstellungen schmeißen sich die Spieler dazu in Posen der Macht.
Bald ist die Ruhe der zur Schau gestellten Lust an Herrschaft aber dahin, heftige Angstgefühlswallungen entladen sich in klassischer Operndivenmanier zu Sätzen wie „Bevor der Diktator gestürzt wird, Blut und Hormone in der Luft“. Dieser erste Szenenkomplex endet in rhythmisch akzentuiertem Atmen, Hecheln, Schnaufen, Stöhnen, Schniefen, Glucksen und ganz viel Lachen – alles beiläufig übersetzt in tänzerische Bewegung. Eindrucksvoll, dass dabei niemand hinterm Rollenspiel verschwindet, sondern stets als Individuum im Kollektiv leuchtet.
Eindrucksvoll ist ebenso, wie die akustische Feinmotorikerin Zhao mit ihren Miniaturen als zarttönende Impulsgeberin der szenischen Episoden wirkt, in denen sich das Ensemble in augenzwinkernd persönlicher Ausprägung den Choreografien widmet und eigenwillige Mimik addiert. Die körperlichen Bewegungen, die die klanglichen Motive umsetzen und sinnlich aufladen, sind ebenso Erscheinungsformen der Musik wie das Lichtdesign. Alles beeinflusst sich gegenseitig. Aktion und Reaktion verschmelzen. Wobei Zhao die Kraft der konzentrierenden Reduktion nutzt und eklektisch mit den Mechanismen des Minimalismus arbeitet, also mit Wiederholungen und Variationen ihrer kompositorischen Ideen spielt. Sie kommen aus dem gezierten Geist der chinesischen Oper, dem fidelen Geist des Musicals oder A-cappella-Pops, dem akademischen Geist der Abstraktion oder dem nostalgischen Geist des Atonalen. Immer bleibt die Musik strukturell transparent. In ihrer pulsierenden Konsequenz ist sie von mal heiterer, mal formaler, immer zurückhaltender Schönheit.
Wenig Tiefgang
Nur inhaltlich bleibt es mau: Diktatoren wie ins Laufen gebrachte Statuen ihrer selbst vorzuführen, ist noch keine forschende Auseinandersetzung mit Obsessionen. Auch weil auf der Textebene vor allem komische Assoziationen, Alltagsgeschwätz und gelegentliche schlaumeierhafte Halbsätze gemixt werden. Der zweite Szenenkomplex ändert daran nichts. Erzählt wird aus TV-Kommentatorensicht vom Ankommen irgendwelcher Promis auf einem roten Teppich. Die Musik wallt auf und ab, während das Ensemble Verbeugungen übt. Perspektivwechsel: Nun plappern und tänzeln die Partygäste manisch zueinander hin und wieder voneinander weg. Selbstinszenierungen sind zu sehen und zu hören: „Ich bin arrogant und die Menschen sind besessen von mir.“ Alle kommen bald im „Bumm chichi bumm chi“-Gesang und entsprechender Schrittkombination zusammen, steigern diese zur Gesellschaftstanz-Parodie und fordern pharaonisch eitel: „I wanna be buried in a pyramid“. Sehr lustig. Aber nirgendwo analytisch erhellend.
Nach einer überflüssigen Video-Schau zerfließender Würmer und Tropfen zu flirrenden Electro-Sounds schließt sich der inszenatorische Bogen. Performer und Sextett wiegen sich zu ihrem ätherisch wellenden Chorgesang. Optisch und akustisch in vollendeter Harmonie. Laut Annika Tudeer ein „post-obessiver, destilliert meditativer Zustand“ als Utopie.
Musikalisch und performativ ist es nicht neu, Körper statt Instrumenten in den Mittelpunkt von Musiktheater zu stellen. Aber als nonchalant formatierter Assoziationsspaß nehmen die obsessiv unprätentiösen „Obesessions“ für sich ein.