Berlin, Detlev Baur: Am Ende der zweistündigen Theaterverhandlung steht hier ein Freispruch. Mit 255 gegen 207 Zuschauern, die auf dem Rückweg von der Pause über die Wahl der Eingangstür in den Saal entschieden haben. Wenn sich denn niemand verzählt hat oder die Zuschauer ihre Aufgabe als Schöffen nicht gar so ernst genommen haben. Denn gar so klar war die Gerichtssituation in Hasko Webers Inszenierung nicht immer. Kurze Videoeinspielungen von Daniel Hengst, Kürzungen und Umstellungen sind in dieser Uraufführung schon recht frei mit dem Text umgegangen, der ja eigentlich nicht mehr zu sein vorgibt als eine konzentrierte Gerichtsverhandlung. Zu Beginn spielte die Person des Angeklagten (ein überzeugender Timo Weisschnur) eine größere Rolle, die Verteidigerin (Aylin Esener) und die Staatsanwältin (Franziska Machens), aber auch die Richterin (Almut Zilcher) zeigten nicht nur Funktionsträgerinnen, sondern waren teilweise auch schlicht Geprächspartner des Täters. Die Gerichtssituation wurde also deutlich zugunsten eines schwer zu verortenden Spiels um Menschlichkeit und Menschenwürde reduziert. Stärken des Textes blieben für mich so auf der Strecke. Eine davon ist, dass anfangs die Anklage absurd erscheint für jemanden, der wahrscheinlich 70.000 Menschen gerettet hat; ganz allmählich wird nüchtern entwickelt, dass er 164 Menschen getötet hat und dafür des Mordes schuldig sein könnte. Wie hat denn das Publikum in Frankfurt entschieden, Bettina?
Frankfurt, Bettina Weber: In Frankfurt lautete die Entscheidung des Publikums ebenfalls: Freispruch, in einer jedoch etwas knapperen Mehrheit: 240 zu 230 Stimmen (ohne Pause). Doch auch hier war das Abstimmungsverfahren nicht ganz durchschaubar – wenngleich der Vorsitzende (ein sachlich nüchterner, dennoch einfühlsam sprechender Martin Rentsch) zur Erheiterung aller betonte, das Gesetz lasse keine Enthaltungen zu und die Technik funktioniere (alle Zuschauer bekamen kleine Geräte zur Abstimmung). Offenbar im Gegensatz zu Hasko Weber hat sich Regisseur und Intendant Oliver Reese relativ strikt an der Vorlage abgearbeitet und diese auf die Bühne übersetzt – nur wenige Striche und Ergänzungen. Hansjörgs Hartungs Bühne ist ein schlichter, naturalistisch holzvertäfelter Gerichtssaal, in schmaler Horizontale über die gesamte Bühnenbreite reichend. Der Raum ist im Übrigen sehr ähnlich gestaltet wie die Bühne zu Oliver Reeses Inszenierung von Kleists „Der zerbrochne Krug“, die gestern (mit überwiegend denselben Schauspielern) in Frankfurt Premiere hatte. Reese hat beide Gerichts-Stücke als Doppelprojekt inszeniert, wenngleich der Gerichtssaal der gestrigen komödiantisch gewürzten Inszenierung deutlich auf die Fünfziger- und Sechzigerjahre und damit auf das zerrüttete Gerichtswesen der Nachkriegszeit verwies. In der Frankfurter Version von „Terror“ steht nun Ferdinand von Schirachs genialisch sachliche, fast karge Sprache im Mittelpunkt und vor allem: der Sachverhalt, die zwischen theoretischer Rechtsphilosophie und konkreter Debatte schwebende Frage danach, ob es trotz der Verfassungswidrigkeit richtig oder falsch ist, 164 Leben gegen das von 70.000 zu opfern. Und so zurückhaltend und überraschungslos diese Regie auch ist, sie steigert unweigerlich die Spannung zum Ende hin – wie entscheidet das Publikum? Nur wenige, wenngleich markante Eingriffe lassen eine Tendenz in der Auslegung zu. So gibt schon zu Beginn der Vorsitzende im Gegensatz zur Textfassung zu erkennen, er hätte durchaus einer Entlassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft zugestimmt, konnte jedoch nicht. Abgesehen davon verläuft das Verfahren zunächst ausgesprochen nüchtern, keine der Figuren zeigt Emotionen – weder der sportlich-engagierte Verteidiger (Max Meyer) noch die ernste Staatsanwältin (Bettina Hoppe) und auch der Angeklagte nicht. Er bleibt überzeugt von seiner Tat, doch zeigt sich zunehmend berührt. Nico Holonics spielt ihn als einen aufrechten, integren Menschen, der zwar als Soldat sachlich argumentiert und doch keineswegs gefühllos bleibt ob des Schicksals der Menschen im Flugzeug – als die Frau eines der Opfer (Constanze Becker) aussagt, weint er stumm. Diese Entwicklung des Lars Koch lenkt den Abend womöglich mit in Richtung Freispruch... die Gerichtssituation scheint also elementar zu sein – zumal gerade der Mangel einer solchen dir in Berlin gefehlt hat, Detlev?