Foto: Ensembleszene © Andreas Etter
Text:Annette Poppenhäger, am 19. Mai 2016
Vielleicht ist es ein historischer Abend und wir haben das nur noch nicht gemerkt. Mit viel Sicherheits-Tamtam im Vorfeld (und entsprechenden Pressemitteilungen), Ausweis- und Taschenkontrolle beim Einlass, ist jetzt zum zweiten Mal Salman Rushdies berühmter Roman „Die satanischen Verse“ für das deutsche Theater aufbereitet worden.
Nach Potsdam vor acht Jahren, damals inszeniert vom – damals noch Potsdamer – Intendanten Uwe Eric Laufenberg (und ebenfalls im Vorfeld mit vernehmbarer Begleitmusik durch die Presse), hat jetzt Ihsan Othmann, deutsch-irakischer Schauspieler und Regisseur, das umfangreiche Epos in die kleine Wiesbadener Spielstätte „Wartburg“ gebracht. Über 700 Seiten, eingedampft auf dreieinhalb Stunden – kein kurzer Theaterabend und doch kann nur ein Bruchteil vom Rushdie-Stoff erzählt werden. Laufenberg, jetzt Intendant in Wiesbaden, lässt offensichtlich nicht locker und will den überbordenden Text dauerhaft für das Theater gewinnen.
Was bei Rushdie opulent, farbig-phantastisch erzählt ist, geht im Theater naturgemäß nur völlig anders. Die Bühne ist ein dunkler Raum mit flach ansteigenden Stufen. Zu Beginn sitzen die acht Spieler links und rechts davon an den Seiten, wer spricht, macht seine Schreibtischlampe an. Der Erzähler hilft bei der Orientierung, nennt Kapitelüberschriften, Orte, zeigt auf einzelne Figuren. Die fremden Namen, Doppelrollen und die Fülle des Stoffes machen Verständnis und Einblick in die Zusammenhänge nicht leicht.
Es geht um Saladin und Gibril, die als einzige auf wundersame Weise einen Flugzeugabsturz nach einem terroristischen Attentat überleben. Das bringt sie dazu, sich grundsätzlichen Fragen zu stellen: nach dem Sinn des Lebens, dem Glauben, nach Gut und Böse und was das eine vom anderen trennt. Sie müssen erleben, wie sie sich nach dem Absturz verändern, es zu „Mutationen“ kommt. Gibril, eine Anspielung auf den Erzengel Gabriel, bekommt einen Heiligenschein und übernimmt doch den teuflischen Part des Gotteskriegers, ähnlich denen, wie wir sie heute aus den Werbevideos des sogenannten „Islamischen Staates“ kennen. Saladin (auch Shaitan, Satan) entdeckt erschreckenderweise an sich die Eigenschaften eines (teuflischen) Ziegenbocks – Hörner, imposantes Gemächt – und bewährt sich dennoch als Mensch. Es geht um das dualistische Prinzip, den Widerstreit zwischen Gut und Böse, Frau und Mann, Engel und Teufel. Saladin wird im Laufe des Abends klar, dass beides in ihm steckt, Hell und Dunkel, Glaube und Zweifel, recht und schlecht. Der wahre Reiz des Bösen sei die verführerische Leichtigkeit, heißt es gegen Ende. Zweifel als Lebensprinzip.
Kommt das Spiel in Fluß, entstehen dichte, intensive Momente: Stefan Graf und Tobias Rott als Gibril und Saladin spielen kräftig, sehr komisch und lustvoll in der Überzeichnung. Anrührend entrückt Llewellyn Reichman als Aischa, das an Epilepsie leidende Schmetterlingsmädchen, das dank seiner Visionen zur Anführerin einer Pilgergruppe wird. Die frommen Menschen ertrinken, weil sich das Meer entgegen der Verheißung doch nicht teilt. Auch die anderen Spieler überzeugen: Janina Schauer u.a. als überlegene blonde Emirsgattin sowie Judith Bohle, Felix Mühlen, Benjamin Krämer-Jenster und Uwe Kraus als Erzähler.
Die „Satanischen Verse“ übrigens kommen auch vor, es geht darin um drei vor-islamische Göttinnen, die in der neuen monotheistischen Religion keinen Platz mehr haben dürfen. Diese und weitere Provokationen im Text sind für uns heute, in Wiesbaden, nur intellektuell nachzuvollziehen, nachspüren oder -fühlen können wir das nicht. Die Fatwa gegen Autor Rushdie übrigens besteht immer noch, erst im Februar 2016 wurde das ‚Kopfgeld‘ erhöht, es sind mittlerweile fast 4 Millionen Dollar. Vielleicht doch ein historischer Abend?