Foto: „SYM-PHONIE MMXX” von Sasha Waltz © Bernd Uhlig
Text:Hartmut Regitz, am 14. März 2022
Eine Wand, bronzefarben leuchtet sie auf. Davor, noch im Dämmerschein des Theaters verharrend, hat Sasha Waltz ihre Tänzer und Tänzerinnen platziert. Dass es sich bei der gekachelten Wand, von Pia Maier Schriever vor gut drei Jahren entworfen, nicht um den üblichen Portalschleier handelt, merkt das Premierenpublikum erst später. „Liquid Wall“, so erfährt man aus dem Programmheft, nennt sich eine Szene der „Sym-Phonie MMXX“, und wenn die Wand auch nicht flüssig ist, so ist sie doch flexibel. Unmerklich schwebt sie nach hinten und gibt dem Ensemble nach und nach Platz zum Tanzen. Auch im zweiten und dritten Teil spielt sie, jeweils durch eine Dunkelpause voneinander getrennt, eine wichtige Rolle. Mal teilt sie die Bühne, sich von links nach rechts verschiebend, in zwei unterschiedliche Räume. Mal senkt sie sich, alles Lebendige scheinbar erdrückend, langsam zu Boden.
Sasha Waltz nennt ihr 90 Minuten dauerndes Stück nicht „The Wall“, was in Berlin jeder gut begriffen hätte, sondern „Sym-Phonie MMXX für Tanz, Licht und Orchester“ – und verweist damit auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs. „Zusammen-Klang“ ist hier nicht in erster Linie auf die Musik bezogen, obwohl Georg Friedrich Haas auftragsgemäß und in enger Abstimmung eine „Partitur in C“ beigesteuert hat. Nein, die Choreografin meint vielmehr das untrennbare Miteinander von „Stille und Musik, Finsternis und Licht, Ruhe und Bewegung, Leben und Tod“ und beschreibt damit ganz gut, was man eigentlich schon 2020 auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden hätte sehen sollen. Das MMXX im Titel ist ein Verweis darauf.
Zwei Jahre Verspätung, andere Besetzung
Wie man weiß, verhinderte die Pandemie die Uraufführung – und das zu einem Zeitpunkt, als das Ende der Doppel-Intendanz Sasha Waltz und Johannes Öhman bereits absehbar war. Zwei Jahre später firmiert die „Sym-Phonie MMXX“ zwar noch immer als Produktion des Staatsballetts, aber keiner seiner Tänzer und Tänzerinnen ist daran noch beteiligt. Interpretiert wird das Werk ausschließlich von den 21 Ensemblemitgliedern von Sasha Waltz & Guest, und das ist gut so: Ganz unterschiedlich in ihrem Erscheinungsbild, fügen sie sich doch selbstlos ein in ein Gesamtbild, das immer etwas Skulpturales hat. Sasha Waltz ist schließlich nicht umsonst die Tochter eines Architekten. Man spürt das in ihrem Raumverständnis und in der Art und Weise, wie sie die Tänzer und Tänzerinnen freskoartig zu Tableaux vivants erstarren lässt. Dabei nimmt sie die Impulsivität der Musik durchaus wahr, die sich anfangs wellenartig aufbaut, als wollte Haas den Rhein ganz in Wagners Sinne noch einmal mit aller Macht und orchestralen Mittel zum Strömen bringen. Zwischendurch kann sie auch ganz zerbrechlich, ja anrührend zart klingen. Neben einem großen Schlagzeugapparat sind auch zwei unterschiedlich gestimmte Harfen hörbar im Einsatz.
Einzelszenen in sensbiler Lichtgestaltung
Das Programmheft nennt eine Fülle von Einzelszenen. „Not able to talk“ ist da beispielsweise zu lesen, „Shelter“, „Crash“, „Vulcano“ oder „Island“ und manches mehr. Wirklich erkennbar werden sie für den Zuschauer in ihrem Charakter nicht. Vielmehr reihen sie sich ein nach Maßgabe einer Musik, die die lautlose Wiederholung einer „Polyphonie der ,Massen’“ oder der „Theater der Soli“ ausdrücklich erlaubt. Natürlich macht das vieles vorhersehbar. Aber so wie der Gegensatz von Laut und Leise eine eigentümliche Spannung schafft, sorgt auch die scheinbar einfache, wenn auch nicht immer nachvollziehbare Kostümierung für Abwechslung. Ebenso wie die überaus sensible Lichtgestaltung von David Finn, die Kälte und Wärme ahnen lässt. Von der Staatskapelle Berlin ganz zu schweigen, die unter Leitung von Ilan Volkov selbst im Dunklen noch differenziert spielen kann.
Viele Vorstellungen der „Sym-Phonie MMXX“ sind vorerst nicht angesetzt. Umso mehr muss man sich ein paar Momente stark ins Gedächtnis prägen. So beispielsweise ein Auftritt der Frauen im zweiten Teil. Da tritt eine nach der anderen von rechts hinten auf, in seidige Abendkleider gehüllt und mit sich wiederholenden Bewegungen, als kämen sie geradewegs aus dem „Königreich der Schatten“ – und das ist bekanntlich eine der schönsten Szenen, die das klassische Ballett zu bieten hat. Klar, dass man sich da fragt, ob die zeitweilige Berufung von Sasha Waltz an die Spitze des Staatsballett nicht ihre tiefen, vielleicht sogar tiefgründigen Spuren hinterlassen hat.