Stefan Herheims Inszenierung des „Rheingold“ an der Deutschen Oper Berlin

Wogender Assoziations-Schwarm

Richard Wagner: Das Rheingold

Theater:Deutsche Oper Berlin, Premiere:12.06.2021Regie:Stefan HerheimMusikalische Leitung:Donald Runnicles

Hier wird eine Menschenmenge selbst zum Rhein. Sie kreist mit den Armen, bewegt sich wellenartig und lasziv mit den Es-Dur-Wogen des „Rheingold“-Vorspiels, wird durch eine ausgefeilte Gesamtchoreographie fast zum Teil des Bühnenbildes. Der Rhein wird an der Deutschen Oper Berlin nicht nur durch die Rheintöchter, die Alberich bezirzen, zum erotisch aufgeladenen Habitat, in dem sich durch den Raub des Goldes der folgenreiche Sündenfall ereignet. Der pandemiebedingte (und wohl in der Aufführungsgeschichte einmalige) Start des „Rings“ von Stefan Herheim mit der „Walküre“ im Herbst 2020 legte die Erzähldramaturgie des „Rings“ offen. Im „Rheingold“ als erläuterndem Vorabend wird nun klarer, aus welchem Keim der Herheim-Ring erwächst.

Die Bühne ist offen, die Scheinwerfer sind sichtbar (Bühnenbild: Stefan Herheim, Silke Bauer). Mit einem Konzertflügel auf der Bühne könnte die Probe beginnen. Es wäre nicht der erste „Ring“, der auf ein Theater-auf-dem-Theater-Spiel zusammengeschrumpft wird, aber Herheim entzieht sich solch einer Konkretheit. Das Zeigen einer Deutung in Form parabelartiger Plattitüden liegt Herheim jedoch bekanntlich ohnehin fern. Zwischen den Polen Macht und Liebe als zentralen Triebkräften des „Rings“ spannt er keinen großen gesellschaftlich-politischen Weltentwurf auf, zieht sich jedoch auch nicht auf die Ausgestaltung zwischenmenschlicher Konflikte zurück.

Das Bühnenbild kommt mit relativ wenigen unterschiedlichen Mitteln aus, die Herheim als Spielmaterial vielfältig und handwerklich exzellent einsetzt, deren Bedeutung immer wieder umbiegt und damit Erzählfäden spinnt. Ein großes raumgreifendes Seidentuch wird vom wogenden Rhein zu den Zinnen der Götterburg, zur Höhle, schließlich zum Regenbogen und zur Weltesche. Immense Mengen von Koffern markieren einen Zustand der Heimatlosigkeit, der Flucht – aber keiner konkreten. So wird zwar Richard Wagners Biographie, geprägt von politischer wie ökonomischer Flucht, angetippt. Mit zwei hängenden Kofferbergen als übergroße Antlitze wird etwa der Auftritt der Riesen effektvoll inszeniert und lässt sie bei ihrer Lohnforderung auch als mahnende Gläubiger erscheinen, denen Wagner zeitlebens immer wieder zu entfliehen versuchte.

Doch die Inszenierung schreitet das Wortfeld ab: Suchen, Nicht-Ankommen, Sich-Entziehen leuchten in den einzelnen Spielsituationen auf, wenn auch nicht immer überpräsent. In jedem Fall flüchten die Götter vor jeglicher Verantwortung. Unbedacht, in naiver und gar dümmlicher Manier reichern sie den Abend um komödiantische Momente an. Ob Wotan, ausgestattet mit Speer und Flügelhelm, die ihn mehr karikieren als bemächtigen, in den kommenden Teilen die Fäden in der Hand haben kann, erscheint fragwürdig.

Derek Welton gibt keinen klangwuchtigen oder gar stimmlich-brachialen Wotan, bleibt eher schlank im Ton, was mit der Figurenzeichnung korrespondiert. Annika Schlicht als Fricka bringt mit ihrem Timbre eine markante Farbe ein, bleibt jedoch leider interpretatorisch recht eindimensional. Donner (Thomas Lehman) und Froh (Matthew Newlin) stehen Wotan als schmierige und zugleich ulkige Spießgesellen bei. Der eigentliche Star des Abends ist Thomas Blondelle als Loge. Als mephistoartige Gestalt kostümiert und geschminkt (Kostüm: Uta Heiseke) tänzelt er listig über die Bühne und dreht der vermeintlichen Ernsthaftigkeit der Angelegenheit schlussendlich den Hals um. Mal mit halber Stimme, von Konsonant zu Konsonant springend, hier und da durch Portamenti einen pathetischen Ton parodierend, fächert er die Partie farbenreich auf.

Was von der Bühne her schillert, stellt sich im Graben anders dar. Womöglich liefert auch die offene Bühnensituation nicht die besten akustischen Voraussetzungen. Das Dirigat von Donald Runnicles entwickelt keinen rechten Schwung, bleibt blass und wenig konturenreich. Die dynamische und dramatische Amplitude im Graben bleibt eher gering. Der Orchesterklang braucht das szenische Korrelat – als Verstärkungseffekt und um überhaupt dramatische Schärfe zu erzeugen. Dafür bietet die Inszenierung reichlich Momente, wenn Herheim – wie oft in seinen Arbeiten – auch im „Rheingold“ den Dialog mit der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Tetralogie sucht, der hier im Vorabend das interpretatorische Fass beinahe zum Überlaufen bringt. Schmieden wird zum Synonym für Komponieren, Erda (Judit Kutasi) liest aus der Partitur vor, Wotan stößt das Schwert Nothung in den Konzertflügel. Mime (Ya-Chung Huang), erscheint mit Samtbarrett als gebückter Richard Wagner, der vor Alberich (Markus Brück) mit Hitlergruß ängstlich zurückweicht. Herheim tritt einen Schwarm an Assoziationen los, der sich an der Stelle noch nicht ganz zu einem Bild fügt, aber dessen weitere Entfaltung bis zur „Götterdämmerung“ mit großer Spannung abzuwarten bleibt.