Szene aus "Everybody Welcome"

Wie ein süßer Baiser

Pierre Rigal: Welcome Everbody

Theater:Staatstheater Mainz, Premiere:29.04.2023 (UA)Komponist(in):Gwen Drapeau

Der Titel ist Programm. Stellt man sich dazu noch ein breites Lächeln vor, etwas aufgesetzt, ausgebreitete Arme, dazu eine gewisse Aufgekratztheit und ein überbordendes Büffet sowie die nicht mehr ganz taufrische Erleichterung, als nach Corona-Schutzmaßnahmen wieder gefeiert werden durfte: So etwa sieht dieses Stück aus.

„Welcome Everybody“ wurde vom  französischen Choreografen Pierre Riga mit den Tänzerinnen und Tänzern am Staatstheater Mainz erarbeitet. Es  dauert zwar nur 65 Minuten, wirkt trotzdem streckenweise länglich und will gar nichts. Nur Heiterkeit und Staunen. Gut aussehen. Ein bisschen wie Zirkus.

Das Publikum im Großen Haus geht mit, applaudiert, wenn die sonore Männerstimme aus dem Lautsprecher zum Applaus auffordert, und zwar mehrmals gleich am Anfang, und steht am Schluss begeistert klatschend auf. Ein netter Abend, und die 13 Tänzer:innen machen das toll. Wer sich vor einem vermeintlich „verkopften“ zeitgenössischen Tanz oder Sharon Eyals düster verspannten Kreationen fürchtet, wird hier bedient. Welcome!

Die Stimme, die sich selbst nicht vorstellt, verkörpert vielleicht das Theater selbst. Es ist beflissen, die Tänzerinnen und Tänzer einzeln vorzustellen. Aber nur mit Vornamen. Später wird auch die kreative Kostümabteilung geehrt, als „Abteilung“, ein Scheinwerfer, schließlich die Technik, die für Nebeleinsatz, Tanzbodenkleben und Züge zuständig ist. Auch auf- und abfahrende Querstangen können als Gruppe Show machen und, glühend rot beleuchtet, die Illusion einer rotierenden luftigen Röhre erschaffen. Wow!

Die Tänzerschar erobert sich allerdings die Aufmerksamkeit zurück und hängt sich an die Stangen, stützt sich auf, kippt kopfüber, macht Späßchen mit Ballettexercises, die Füße in der Luft. Der Clown, Matti Tauru, verpasst den Absprung, soll mit Trittleiterchen gerettet werden, lässt sich dann auf Maasa Sakanos Schulter plumpsen. Quiekt.

Auf Knopfdruck

Liegt die tiefere Bedeutung, die Rigal im Programmheft ohne weitere Erläuterung, im Maschinenhaften des Entertainments? Am falschen Lächeln? Ist es das, was Pina Bausch vor Jahrzehnten mehrfach abfeierte mit bitterer Note? Hier aber ganz ohne.

Rigal, der während der Corona-Zeit (im Juni 2020) mit Tanzmainz „Extra Time“ zur Premiere brachte und schon vorher „Welcome Everybody“ fast fertig hatte, wird 2024 für die Eröffnung der Olympischen Spiele in Paris und Marseille den Fackeleinlauf choreographieren. Das muss gut aussehen.

Was Maschine ist, kann kaputtgehen oder haken. Also werden die Willkommensphrasen und die Namen sowie die mitlaufende, sich mitunter selbstständig machende englische Übersetzung in einem großen hängenden Monitor verzerrt und wiederholt. Ton und Buchstaben. Die einzeln hereingetanzten und zur bunten Posenreihe formierten Tänzer:innen spielen Irritiertsein, als die Begrüßung sich wiederholt. Fragende Blicke, Handflächen nach oben. Gehen raus, wiederholen den Auftritt. „Welcome!“ Zwei winken wieder ins Publikum. Alles genauso wie vorher, nun als unspontan entlarvt. Dann auch mal rückwärts in Slow Motion, und wenn der Ton wie beim scratchenden DJ rüttelt, wackeln sie auch mit Köpfen und Knien. Vor-rück-vor-rück.

Der Elektrosound von Gwen Drapeau, der die Show wie ein Motor zum Laufen bringt (nicht zum Rennen, zum Glück), macht durchgängige Rhythmen, von leichtfüßig synkopiert bis technohämmernd, fügt ein bisschen Orgeln dazu und grummelnde und singende Stimmen. Die enge Zusammenarbeit im Probenprozess zahlt sich aus, indem das Hörbare exakt zum Sichtbaren passt, ohne zu dominieren. Funktioniert.

Einrasten

Die Choreografie stellt sich als ein Formieren und Synchronisieren aus, Szene nach Szene ohne wirklichen Zusammenhang, als Vorwärts, mal schnell, mal verlangsamt, mal angehalten zum Standbild – zwei Gruppen wie eine auseinandergerissene Gemeinschaft, die Hände gestreckt wie nach Ertrinkenden,

Dramaschnappschüsse. Mal klinken sich alle ein ins Unisono, mal bleibt jemand draußen, aber nie lange. Zuweilen ist ganz viel Unterschiedliches los auf einmal: Duette, Trios, Solos, drei heben eine Person, ein bisschen oder weit nach oben, dies auf vielerlei Art. Alle klettern und steigen mal auf alle anderen, auf deren Knie, im Liegen, oder auf Bäuche und Rücken, die vom Boden aus hochgewölbt werden, auf Oberschenkel, im Stehen, oder Schultern. Spagate, waagerecht und senkrecht, kommen so oft vor, dass sie normal werden. Schließlich, beim Szenenthema „Linien“ werden sie einfach eine der Geraden zwischen den vielen rechten Winkeln, die sich ausbreiten: an Hüften, Ellbogen, Schultern und Knien.

Immer was los

Es gibt Formationen im Kreis, ein hüpfendes Laufen, etwas gebückt und gekrümmt mit rund erhobenen Armen, ein Stolzieren auf Fußballen, ein gruppenhaftes Ziehen an Händen im Pulk oder in Kette, viel Kreiseln sowie das Aufstellen in Reihe: frontal, wie zu Begrüßung oder Applaus. Und von vorn nach hinten, mit lauter Echo-Effekten und Herauskippen oder -strecken, Auflösen, Wiedereinfügen. Zack, herrscht nach scheinbarem Gewusel wieder Ordnung.

Die Choreografie bedient sich an solchen Formen aus dem Baukasten und von berühmten Kolleg:innen oder Stilen. Bei den Kontorsionen von Maasa Sakano und Paul Elie grüßt der Zirkus. Welcome, copy everybody. Das ist stellenweise vergnüglich, wie auch Lucia Vonrheins farbenfrohe Kostüme glitzern, bauschen, Figur machen. Ein Abend wie ein Baiser: Man knuspert, wischt die Krümel von der Hose, fand’s zu süß.