Foto: Barbara Wurster und Florian Walter in „Tiefer Grund“ © Birgit Hupfeld
Text:Florian Welle, am 14. November 2022
Die Inszenierung lebt von ihren subtilen Gesten. Barbara Wurster steht da, verschränkt ihre Arme vor der Brust und schützt sich so selbst. Florian Walter sitzt daneben auf einem Stuhl. Seine Hände liegen als Ausdruck großer Hilflosigkeit gefaltet im Schoß. Nervös schnellt er nach oben, geht ein paar Schritte umher, setzt sich wieder. Dann setzt auch sie sich, und erste Worte durchbrechen die Stille. Sie findet es komisch, hier mit ihm „so“ zu sitzen. Wurster betont das Wörtchen „so“ und schiebt erklärend hinter her: „Als wär gar nichts gewesen.“
Natürlich ist was gewesen! Das jüngste Auftragswerk von Björn SC Deigner für das Bamberger ETA Hoffmann Theater heißt nicht von ungefähr „Tiefer Grund“. Das Zwei-Personen-Stück erzählt die Geschichte eines Schulmassakers und die Folgen für die Eltern des Täters. Erik war fünfzehn Jahre alt, als er mit einer Waffe aus dem Internet loszog, um acht Kinder und anschließend sich selbst zu töten. Acht Jahre nach der Tat sieht sich das mittlerweile getrennt lebende Ehepaar am Geburtstag ihres Sohnes in einem Friedwald wieder und versucht immer noch, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum ihr Kind zum Mörder wurde. Waren wir so lieblos? Was haben wir übersehen? Woher kam das so plötzlich? Gleichzeitig wissen sie, dass sie nicht nur „als Menschen der Vergangenheit“ existieren. Doch kann es für sie überhaupt einen Neuanfang geben?
Fragen ohne Antworten
Deigner hat ein hochverdichtetes Kammerstück geschrieben, das die richtigen Fragen stellt und auf einfache Antworten verzichtet. In seinem Zentrum steht ein stetig wiederkehrender Albtraum der Mutter. Darin versinkt sie in einem Ozean, bis sie zu ersticken droht. Intendantin Sibylle Broll-Pape nimmt die Zuschauer in ihrer gerade mal eine bedrückende Stunde dauernden Uraufführungsinszenierung mit auf den Grund des Meeres, der ein Abgrund ist. Passend dazu hat Broll-Papes langjährige Bühnen- und Kostümbildnerin Trixy Royeck die Studiobühne des ETA Hoffmann Theaters überwiegend in dunkelblaues Licht getaucht. Auch der Friedwald – eine Videoprojektion auf zwei verschiebbaren Stellwänden – gleicht einem undurchdringlichen Dickicht. Dazu erklingt immer wieder minimalistisches Klavierspiel, Töne wie Tropfen oder Tränen.
Das Stück ruft natürlich die von rechtsextremistischen, antisemitischen und frauenfeindlichen Motiven geleiteten Amokläufe der letzten Jahre ins Gedächtnis: Vom „Schulmassaker von Littleton“ 1999 über das OEZ-Attentat in München 2016 bis zu den Anschlägen von Halle, Christchurch und Hanau 2019 und 2020. Auch Björn SC Deigners Erik, so erfährt der Zuschauer in mehreren Rückblenden, die ihn in die Zeit kurz vor und nach der blutigen Tat führen, war ein Einzelgänger, der sich in Chatgruppen radikalisiert hat, bis er für seine Umgebung nicht mehr erreichbar war. Der eigene Sohn, eine leere Hülle.
Ratlosigkeit und Schuldgefühle
Doch nicht der jugendliche Täter und seine Beweggründe stehen in „Tiefer Grund“ im Mittelpunkt. Sondern dessen von Schuldgefühlen und Ratlosigkeit geplagten Eltern. Noch Jahre danach machen sie sich gegenseitig Vorwürfe – „Du hast Karriere gemacht und was war mit uns“, faucht einmal die Mutter –, um schnell zu erkennen, dass das überhaupt nichts bringt. Dann versucht man wieder aufeinander zuzugehen, einander zuzuhören, gemeinsam zu trauern. Ja, auch das. Barbara Wurster und Florian Walter bestechen als traumatisierte Eltern, die verstehen wollen, was letztlich nicht zu verstehen ist. Und manchmal auch nur vergessen wollen und deshalb zu Tabletten greifen oder sich ganz weit weg wünschen. Nach Kanada zum Beispiel, in die Wildnis. Doch die Erinnerung bleibt, natürlich. Zu sehen sind zwei verlorene, erschöpfte Menschen, für die jeder Tag aufs Neue ein Kampf ist.