Foto: Sebastian Kowski (Hans) und Nadja Robiné (Katharina) © Candy Welz
Text:Ulrike Kolter, am 20. Dezember 2025
Für die intime Studiobühne am Deutschen Nationaltheater Weimar hat Beate Seidel den Erfolgsroman „Kairos“ von Jenny Erpenbeck adaptiert und inszeniert. Die Affaire der jungen Katharina mit dem deutlich älteren Hans in Zeiten des Zusammenbruchs der DDR erzählt Seidel mit Verfremdung und epischer Distanz – und bewegt das Publikum trotzdem.
Kairos ist der Gott des glücklichen Augenblicks. Aber gibt es den wirklich, diesen Moment, und ist er noch in der Rückschau aufs eigene Leben als solcher anzusehen? Als Glücksmoment? War die Begegnung zwischen Hans und Katharina an jenem verregneten 11. Juli 1986 in Ostberlin einer? Oder doch nur der Beginn einer toxischen Abhängigkeit von einem verheirateten, gut 30 Jahre älteren Mann? Als der Anruf von Hans kommt mit der Frage, ob Katharina zu seiner Beerdigung käme, sitzt sie gerade in Pittsburgh vor einem ihrer Gemälde. Natürlich käme sie. – Vier Monate später dann kommt sie nicht.
Eine Amour fou im Untergang der DDR
2021 feierte die Literaturwelt Jenny Erpenbecks epischen Gegenwartsroman „Kairos“, für den sie als erste deutsche Schriftstellerin in London den International Booker Prize erhielt, der in den deutschen Shortlists zunächst wenig Beachtung fand. Erzählt wird die Affaire der 19-jährigen Katharina zu dem verheirateten, Mitte 50-jährigen Schriftsteller Hans, beide aus dem intellektuellen Milieu der DDR, während das politische System zusammenbricht und damit alle kulturellen wie sozialen Sicherheiten, inklusive Hans‘ Anstellung beim Rundfunk und seiner Ehe.
Aus dem knapp 400-Seiten-Roman, der die zunehmend brutale Liebesgeschichte beider wie im Rausch verhandelt, hat Beate Seidel eine sprachlich reduzierte Bühnenfassung extrahiert, in der nur Hans und Katharina auftreten. Auf der kleinen Studiobühne unterm Dach des Nationaltheaters Weimar hatte „Kairos” in Seidels Regie Premiere, einhellig bejubelt vom Publikum nach 90 fast atemlosen Minuten. Die beginnen wie im Roman mit Katharinas Retrospektive auf ihr Leben, wenn sie Tisch, Regal und Hans selbst auf einem Stuhl sitzend unter weißen Bettlaken hervorzieht…
Er denkt, sie denkt
Beate Seidel bleibt der personalen Erzählform des Romans treu, beide Figuren reflektieren häufig in der 3. Person über sich oder sprechen im brechtschen Sinne direkt ins Publikum: „So wird es nun sein für immer, denkt sie.“ oder „Woher nur nimmt sie ihre Gewissheit?“ oder „Von jetzt an, denkt er, liegt die Verantwortung, dass es weitergeht, allein bei ihr.“ Das führt vor allem bei der Katharina von Nadja Robiné zu sprecherischer Höchstleistung, etwa wenn sie in Gesprächen mit der Westverwandtschaft beim ersten Köln-Besuch Oma, Tante und Katharina in verschiedenen Dialekten gleichzeitig gibt. Fantastisch! Auch eingeworfene Regieanweisungen („Regen!“) oder kurze Umbauten unterbrechen das Spiel beider. Kritische Distanz statt Empathie ist das Konzept.
So reichen wenige Möbel und Requisiten (Bühne und Kostüme: Silja Reimer), um Szenen der gemeinsamen Jahre nachzuspielen: Restaurantbesuche im historischen Berliner Ganymed am Schiffbauerdamm; gekippt wird der Tisch später zum Schreibtisch, Liebesbett oder Strandkorb an der Ostsee, wo Katharina Hans heimlich beim Familienurlaub mit Frau und Sohn besucht hatte. Fast nüchtern springen beide von Szene zu Szene, unterfüttert von symbolhaften Bildeinblendungen: der Trabi mit Zelt auf dem Dach, die Fassade des Kölner Doms, Supermarktregale mit meterlanger Joghurtauswahl als Inbegriff des kapitalistischen Überflusses (Video: who-be).

Die Entfremdung beider schreitet fort mit dem Untergang der DDR: Nadja Robiné (Katharina) und Sebastian Kowski (Hans). Foto: Candy Welz
Sebastian Kowski ist als stets rauchender Hans kein Intellektuellentyp, eher sympathisch-unbeholfen mit seinem braunen Karo-Jackett und den schwarzen Slippern, die er ohne Socken trägt. Nadja Robiné gibt Katharina mit herzlicher Naivität, lacht viel und lässt auch sein (nur akustisch angedeutetes) Auspeitschen im Schulmädchenkostüm klaglos über sich ergehen. Warum sie letztlich festhält an Hans, dessen eingestreute Analysefetzen über den Untergang des Sozialismus, Reimschemata der DDR-Nationalhymne, Bach, Brecht und Eisler immer isolierter wirken, das bleibt uns fremd.
Womöglich kann das Theater diesem Roman gar nicht gerecht werden, dieser dichten Komposition aus Satzwiederholungen, Kulturhistorie und Verzahnung von politischem mit individuellem Schicksal. Wenn, dann wohl nur wie hier – mit Distanz.