Foto: "Das Nashorn", Foto der Vorberichterstattung © Royal Lyceum Theatre Edinburgh
Text:Michael Laages, am 6. August 2017
Murat Daltaban inszeniert „Das Nashorn“ von Eugene Ionesco in Edinburgh.
Als „Die Nashörner“, dieses ziemlich apokalyptische Alptraum-Stück über Masse und Macht, 1960 uraufgeführt wurde, war das Etikett noch in Arbeit, das das Werk des zwischen Rumänien und Frankreich pendelnden Autors Eugene Ionesco in der Folge prägte: Martin Esslins Buch über „Das Theater des Absurden“ erschien erst im Jahr danach. Und es führte eher in die Irre, zumindest was „Die Nashörner“ betrifft, Ionescos nachhaltigsten Erfolg – „absurd“ ist an diesem Stück allerhöchstens die Oberfläche. Darunter erzählt es eine völlig klare und allseits zugängliche Geschichte. Die dramaturgische Neufassung der im schottischen Edinburgh lebenden und arbeitenden Dramatikerin, Regisseurin und Theaterleiterin Zinnie Harris verstärkt und verschärft am Beginn vom „Edinburgh International Festival“ die Wirkung von Ionescos utopischer Fabel beträchtlich.
Zwei Herren treffen sich zum Sonntagmorgen-Kaffee, Berenger heißt der eine, Jean der andere, und sie verfallen gleich in ziemlich albernen Streit: übers Zu-spät-Kommen, über zu viel Alkohol oder zu viel Frauen am Abend zuvor. Nachbarinnen und Nachbarn im Lokal, wo beide sich treffen, mischen munter mit; ein selbsternannter „Logiker“, freischaffende Fachkraft für Wahrheitsfindung, spielt eine wesentliche Rolle in dem kleinen Gezeter. Da lärmt plötzlich ein Nashorn an der kleinen Idylle vorbei… Wo kommt das her? Aus dem Zoo? Und wie viele Hörner hat es auf der Nase?
Dieser Einbruch des Unerklärlichen sprengt die kleine Gesellschaft. Bald kommt das Tier wieder – oder sind es jetzt schon zwei? Eine Katze wird zum ersten Opfer des trampelnden Urviechs; aber bald steht die Ordnung selber in Frage – am Morgen danach berichtet die Zeitung von dem Ereignis. Und während mancher das Thema noch großzügig ignorieren möchte (etwa so: Das Nashorn war in der Zeitung sicher eine Ente!), stürmt eine Frau herauf ins kleine Büro, wo Herr Berenger arbeitet, und fühlt sich von einem Nashorn verfolgt. Doch wie es da so vor dem Haus herum trottet, scheint es nach ihr zu rufen, schnaubend wie ein Nashorn – und die Frau erkennt: Das ist ihr Mann, aber mutiert; sexuell allerdings attraktiver als vorher. Sie reitet auf ihm davon.
Von nun an geht’s Schlag auf Schlag. Immer mehr Nashörner donnern durch die Stadt. Jeder und jede kann eins werden. Berenger muss miterleben, wie bei Freund Jean die Verwandlung vonstatten geht: ein Horn scheint auf der Stirn zu wachsen, die Haut verledert – aber vor allem lauert der Kern, die Wurzel der „Rhinozeritis“, im Denken der Menschen. Animalisch ichbezogen und „völkisch“ beginnen sie zu räsonnieren, die eigentlich doch selber „fremden“ Nashörner beginnen schnurstracks all jene als „fremd“ zu denunzieren, bei Zinnie Harris gar als „Migranten“, die nicht so sind wie sie. Die Verführung zum Terror durch Masse steckt offenbar in jedem und jeder Einzelnen, und Berenger, der beharrt auf Vernunft, verliert nach und nach Freundin und Freunde an den Opportunismus, an die Welt der Nashörner.
Wer will, mag hier ein „Stück der Stunde“ entdecken – hat sich die Welt, hat sich sogar Amerika so gründlich gewandelt, lässt Zinnie Harris Ionescos Personal fragen? Und sie zielt natürlich auf den Populismus der Trump-Zeit; während die Inszenierung des türkischen Theatermachers Murat Daltaban natürlich von jenem Trump-Abklatsch berichtet, der in seinem Lande wütet. Der Kellner in Ionescos ehedem französischen Kleinstadt-Cafe trägt jedenfalls Fez; und Musiker Oguz Kaplangi versorgt das Stück nicht nur mit dem computergenerierten Live-Sound lärmender Nashörner, sondern auch mit heimischer Folklore.
Das Bild von der Bedrohung aber bleibt derweil abstrakt – vor allem weil Tom Piper eine Welt aus verschiebbaren Wänden und Podien entworfen hat für die große Bühne im neoklassizistischen Lyceum-Theater; wo ja der Dramatiker David Greig seit einem Jahr Hausherr ist. In immer höhere Höhe flüchtet sich, quasi Etage um Etage und voller Angst vor der eigenen Mutation, diese unbeirrbare Individuum Berenger – um am Schluss, als noch die Freundin vernashornt ist, als tatsächlich „letzter Mensch“ mitten im Raum zu stehen. Alle Wände verschwinden, und in luftigen Höhen schweben wie Sterne im All die Stühle aus dem Cafe vom Beginn.
Harris, Daltaban und Piper haben sehr starke Bilder gefunden für Ionescos alte Geschichte; und nur die ziemlich forcierte Hysterie der Inszenierung schadet der gedanklichen Klarheit des Stückes. Dessen Bezugnahme auf den rumänischen Faschismus der 30er Jahre wie auf den Kommunismus der frühen Nachkriegszeit hat sich angemessen zeitgenössisch gewandelt. In der Verwandlung ganz normaler, bieder-braver Bürgerinnen und Bürger offenbart sich die grässliche Fratze des Populismus weltweit, wie er Hand in Hand marschiert mit neuem Rassismus, neuem Faschismus.
Beispielhaft ist hier ein Klassiker modernisiert worden – und Zinnie Harris, der Ko-Direktorin am Traverse-Theater gleich nebenan, diesem Treffpunkt neuer englischer Dramatik, gelingt es, neben dem eigenen neuen Text „Meet me at dawn“ zum Start des Festivals mit diesen ‚Nashörnern‘ obendrein auch ein Stück „wie neu“ zu entdecken.