Foto: Ensemble in Thomas Melles "Die Lage" am Schauspiel Stuttgart © Björn Klein
Text:Manfred Jahnke, am 19. September 2020
Die Krise auf dem Immobilienmarkt spitzt sich für einen Menschen mit Durchschnittseinkommen immer mehr zu: Wohnraum ist nicht mehr bezahlbar. Thomas Melle hat in „Die Lage“ dieses Thema, das viele Leute bedrängt, aufgegriffen. Aus seinen Recherchen heraus entwickelt er die spannende Konzeption eines Castings. Viele Situationen wirken in dieser Verdichtung satirisch, sind aber bitter ernst, wenn Wohnungssuchende zum Schnarchtest ins Schlaflabor geschickt werden sollen oder kräftiges Sexstöhnen gefordert wird, um jeweils die Lautstärke zu testen. Casting bedeutet darüber hinaus, Menschen, die sich nicht kennen, in Konkurrenz zueinander zu bringen. Dass dabei Paarbeziehungen kaputt gehen, Leute kalt aussortiert werden: Business. Politisch eingerahmt wird das Ganze auch, muss es auch, denn „die Miete ist die soziale Frage unserer Zeit“. Ein bisschen lässt Engels grüßen.
Melle nimmt in seinem Text keine Rollenzuteilungen vor. Es gibt einen Chor, den man Chor der Mieter nennen könnte, aus dem heraus die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Rollen generieren. In ihrer Stuttgarter Uraufführungsinszenierung behält die Regisseurin Tina Lanik dieses Konzept in akustischen Einschüben aus dem Off bei, visuell aber immer nur dann, wenn das Publikum direkt angespielt wird (in einer Choreografie der großen Abstände zwischen den Akteuren). Der ständige Rollenwechsel entsteht dazu nicht aus einem chorischen Akt heraus, sondern aus einem visuellen. Ausstatter Stefan Hageneier hat auf einem niedrigen Podest zwei Wände im rechten Winkel geschaffen, nach vorne offen, in denen jeweils zwei Schiebetüren eingelassen sind. Aber die Wände können auch insgesamt transparent werden; dann sieht man, wie die gerade nicht im Einsatz befindlichen Spieler auf Stufen hinter der durch die Wände hervorgehobenen Spielfläche sitzen. Auf der Bühne selbst gibt es noch eine lange Theke mit eingelassener Spüle, die von den Akteuren gedreht werden kann. Alles ist im schicken Weiß gehalten und verweist denn doch eher auf ein Schickeria-Milieu und damit auf eine Schwachstelle: Es geht nicht um das Normal-, sondern um das Luxusproblem einer im Überfluss lebenden Schicht, die sich nun bei der Wohnungssuche demütigen lassen muss.
Wenn das Publikum eingelassen wird, sitzt Jannik Mühlenweg schon in hockender Yogastellung auf der Bühne. Er betrachtet neugierig die hereinkommenden Zuschauer und gibt einem so von vornherein das Gefühl: Hier wird etwas verhandelt, dass einen auch selbst treffen könnte. Wenn dann langsam das Licht aus dem Zuschauerraum gezogen wird, erzählt Mühlenweg, stimmlich zwischen dem Wohnungssuchenden und dem Makler switchend und leichte Yogaübungen absolvierend, die fiese Geschichte eines „Castings“, wie es in jeder Firma stattfinden kann. Plötzlich sind Schüsse zu hören und eine Frau mit Gewehr ist im Video (von Birgit Stoessel) zu sehen. Damit gibt Lanik ihrer Inszenierung eine wichtige Linie vor: Sie betont das aggressive Potential des Stoffes, verbindet es zugleich mit einer klaren politischen Haltung, wenn am Tresen dann das Wort „Revolution“ geschrieben wird. Oder, wenn im Abschlussvideo erneut eine große Schießerei stattfindet, in einem durch Spiegel sich brechenden Raum und mit Comicelementen.
Aggressivität wird dabei weniger durch körperliche Handlungen ausgedrückt, wenn sich auch hinter dem Anschein der Coolness brodelnde Emotionen verbergen, sondern durch Lautstärke. Lanik treibt dazu ihr Ensemble zu enormem Spieltempo an. Im Wechsel von blaugetöntem Licht (Lichtdesign: Stefan Schmidt) zu gelborangenen Abstufungen, wenn die „Sonne“ scheinen soll, und nur wenigen hellen, fast an Arbeitslicht erinnernden Einstellungen, zumal, wenn das Publikum angespielt wird, werden die Rollen gewechselt, ohne dass sich die Spieler in ihrer Erscheinung verändern. Stefan Hageneier und Lara Roßwag haben dazu Kostüme in verschiedenen Blautönen und Schnitten geschaffen. Am Ende agiert das Ensemble in einem einheitlichen beigen Outfit und trägt dazu große blonde Perücken.
Neben Jannik Mühlenweg treten Josephine Köhler und Marietta Meguid als selbstbewusste Frauen auf, Köhler dabei mit einem naiven Einschlag, Meguid sehr präsent. Boris Burgstaller spielt unter anderem einen gefallenen Vormieter, der nun in einem Verschlag unter der Theke lebt, was teilweise per Live-Video übertragen wird. Sebastian Röhrle dominiert in der Rolle eines der Makler mit präziser Schärfe. Mit dem hohen Spieltempo, den Szenen, die sich direkt an das Publikum wenden, und den schnellen Rollenwechseln, die in dieser Form ein intensives Mitdenken der Zuschauer einfordern, versucht die Regie herauszustellen, dass die Frage nach bezahlbaren Wohnungen keine individuelle Angelegenheit ist, sondern ein massives gesellschaftliches Problem darstellt.