Foto: "Die Verlorenen" am Residenztheater © Birgit Hupfeld
Text:Anne Fritsch, am 19. Oktober 2019
Ein Kruzifix ohne Gekreuzigten. Ein hölzernes Kreuz wie eine Leerstelle, die gefüllt werden will. Eine Gesellschaft, die ihren Glauben verloren und durch nichts ersetzt hat. Eine Gruppe farblos Gekleideter betritt den weißen, sich nach hinten verjüngenden Guckkasten, als wären sie hineingeschubst worden. Hilflos – ja: verloren – stehen sie im leeren Raum und rufen ihre Fragen hinein: „Hallo?“ „Ist wer da?“ „Sind wir allein da draußen?“ Einander sehen sie nicht, ihr Blick richtet sich in die Ferne, ins Publikum.
Es sind schon eher die größeren Fragen der Menschheit, die Ewald Palmetshofer in seinem Stück „Die Verlorenen“ stellt: nach einem Leben ohne Gott. Der (Un-)Möglichkeit eines Zusammenlebens. Dem Sinn des Ganzen. Nora Schlocker hat das Auftragswerk jetzt am Residenztheater inszeniert. Es ist, nachdem Simon Stone die Uraufführung „Wir sind hier aufgewacht“ wegen eines Filmprojekts absagen musste, zur Eröffnungspremiere der Intendanz von Andreas Beck avanciert.
In einem Prolog erzählen die Schauspielerinnen und Schauspieler Bruchstücke unerfüllter Leben: von Fotos fremder Menschen auf Handys, die bei Nichtgefallen weggewischt werden; vom „Sprechmüll“ auf Spielplätzen; von Selbstbefriedigung mit eingeschlafener, weil sich dann fremd anfühlender Hand. Eine Versammlung der Vereinsamten und Entfremdeten. Einen Lichtwechsel später geht es über in die eigentliche Handlung, die im Grunde auch keine ist, eher eine Zustandsbeschreibung. Clara kündigt ihrem Ex-Mann und dessen Neuer eine Auszeit an, in der sie den gemeinsamen Sohn an den vereinbarten Wochenenden nicht nehmen wird. Sie zieht sich ins Haus ihrer verstorbenen Großmutter zurück, um „nichts“ zu finden. Stattdessen findet sie Kevin, der daheim rausgeflogen ist. Die beiden verbringen eine verzweifelte Nacht zusammen. Es sind alltägliche Geschichten von Scheidung, Einsamkeiten und ob der Sinnsuche ihrer Eltern vernachlässigten Kindern.
Schlocker bannt die Figuren in den leeren Kunstraum von Irina Schicketanz, in dem sie präsentiert werden wie Ausstellungsobjekte, die sich der Herausforderung stellen, Palmetshofers sprachliche Stolperfallen zu meistern. Denn Palmetshofers Figuren sagen nicht: „Du musst mich nicht vor meinem Sohn beschützen.“ Sie sagen: „du musst vor meinem Sohn mich schützen nicht“. Sie reden ohne Punkt und Komma, in zeilen- und wörterüberspringengen Endlos-Satzfragmenten. Indem er die Sprache wie ein Bildhauer beackert, schält Palmetshofer Unterwartetes und Unterbewusstes aus ihr heraus. Diese Sprache verlangt jedoch leider – dem Ensemble wie auch dem Publikum – so viel Konzentration ab, dass es über weite Strecken beim verhaltenen Textaufsagen bleibt. Nur selten erhascht man einen Blick hinter die (Sprach-)Fassade, bekommt einen Eindruck von dem Menschen, der sich hinter den Satzbruchstücken verbirgt. So gelingt es etwa Ulrike Willenbacher als Tante oder Steffen Höld als „der alte Wolf“ komplexe, widersprüchliche und lebendige Charaktere zu zeigen.
Anstatt der artifiziellen Sprache szenisch etwas entgegenzusetzen, betont die Inszenierung das Künstliche und Konstruierte. Wenn Clara mit ihrer Mutter telefoniert, steht diese bildlich auf der Leitung, während Clara das Telefon zwar in der Hand, den Hörer jedoch nicht ans Ohr hält. Schlocker umgeht jede realistisch verortete Situation, die Palmetshofer in seinen Regieanweisungen als Möglichkeit schildert, und distanziert die Figuren dadurch noch weiter von sich und einander.
Vor der Pause fasst „der alte Wolf“ die allgemeine Not zusammen: „wir rasen still durchs All elliptisch um ein sterblich Licht das kennt uns hört uns sieht uns nicht ins Schwarz“. Die Rückwand klappt nach hinten weg, ein schwarzes Loch tut sich hinter den Figuren auf. Der Vorbote der Eskalation, die nach der Pause, nach zwei Dritteln des Abends, folgt. Nach einer extrem langen Einleitung löst plötzlich Aktion den zelebrierten Stillstand ab. Sehr lange geschah sehr wenig, dann plötzlich sehr viel. Für eine kurze Zeit sieht man tatsächlich Menschen, die einander etwas angehen und mit einander ringen. Die leeren Leben münden in eine Katastrophe. Danach verfallen sie wieder in die anfängliche Lethargie. Alles beim Alten. Umsonst das Opfer am Kreuz. Der Mensch, der seinen Glauben verloren und durch nichts ersetzt hat, findet keine Rettung „von oben“. Und ist hier unten alleine.