Um das vorweg klarzustellen: Solch einen „Boris Godunow“ hat die Opernwelt wohl nie gesehen und dürfte ihn allenfalls noch in Lübeck und Göteborg, den Nürnberger Koproduktionspartnern, erleben. Erst wird der oberste Dämon des russischen Musiktheaters per Kasperlbühne zum Zaren ausgerufen, dann spielen seine Kinder Volksarmee mit Miniatur-Panzern, ein „Blödsinniger“ (in poetischeren Zeiten nannte ihn der Programmzettel „Gottesnarr“) beschimpft den Herrscher als Kindsmörder und wird vom Bodyguard niedergeknallt, schließlich verkündet Boris die Abdankung an einer riesigen Hüpfburg und nimmt seinen Resturlaub. Das Gummi-Bauwerk lässt sogleich solidarisch die Luft ab und bleibt dem staunenden Volk als leere Hülle der Macht überlassen. Na gut, wenn Peter Konwitschny mit wahlweise listigen oder lustigen Gedanken ein klassisches Werk durchwühlt, ist das dann doch alles noch sehr viel komplexer.
In Nürnberg, wo das Aufwühlen der russischen Seele bei der letzten Produktion von „Boris Godunow“ vor etlichen Jahrzehnten noch dreieinhalb elegische Stunden dauerte, wird die inzwischen weithin durchgesetzte Urfassung von 1869 gespielt. Darin geht Modest Mussorgski in schlanken 120 Minuten schnell zur Sache, lässt spröde kommentierende Klänge ohne säuselnde Umschreibung an der Standfestigkeit der singenden Figuren rütteln und stellt sein (sonst oft, in Nürnberg nicht) als „musikalisches Volksdrama“ etikettiertes Werk mit allen Brüchen in die Stürme der Weltgeschichte. Dass man sein Diktum von der „Entdeckung des Vergangenen im Gegenwärtigen“ auch umkehren kann, ist das unausgesprochene Konzept von Peter Konwitschny. Er entdeckt Gegenwart, wohin er auch blickt. Die Inszenierung setzt bei Perestroika an, zeigt „das Volk“ ikonenfrei im kombinierten Wodka- und Konsumrausch, schiebt Puschkin beiseite und holt sich Gogols „Nase“ samt Schostakowitschs Witterung für die Spurensicherung.