Foto: Roman Mucha in „Lenz“ © Schlosstheater Moers
Text:Detlev Baur, am 6. Juni 2020
Das Schlosstheater Moers war in Zeiten der Zwangsschließung mit Streamings, etwa einer neuen Version der schon vor Corona herausgekommenen „Pest“-Inszenierung, überaus aktiv in der Kunstunterbrechung. Nur die Streamingversion von „Lenz“ nach Georg Büchners Erzählung wollte verfilmt nicht gelingen; doch nun konnte das Zusammenspiel des Darstellers Roman Mucha mit der brasilianische Percussionistin Mariá Portugal als reeles Theater noch in die Öffentlichkeit gelangen, wenn auch nur vor 12 Zuschauerinnen und Zuschauern, darunter einige Kritiker.
Die Spielstätte „Kapelle“ ist ein wunderbarer Ort für einen intimen und doch sehr dynamischen Neustart, die ehemalige Friedhofskapelle wurde zur Zeit Büchners erbaut; Roman Mucha befestigt sich zu Beginn am Rücken an einem Bungeesprungseil, das an der Decke befestigt ist. Auf einem Podest wirbelt, quirlt, summt, rasselt und raschelt Mariá Portugal, während Mucha auf oder über dem etwa zehn mal fünf Meter großen Raum spielt, spricht und schwebt, und das über die fast 90 Minuten lang vermummte Publikum an der Längsseite am Boden oder auf der Galerie sitzt.
Der ernste, konzentrierte, ehemals sakrale Raum passt auch insofern zum Spiel um „Lenz“, als Religion und Kirche in dem Text eine zentrale Rolle spielen. Regisseur (und Intendant) Ulrich Greb folgt Büchners Werk weitgehend textgetreu, eingestreut sind – auch zur Gliederung der Beschreibung von der zunehmenden Verzweiflung des Dichters Lenz, aber ebenso zur Kontrastierung durch exakte Sprachanalyse und schließlich als historisches Bindeglied zwischen 19. und 21. Jahrhundert – eingespielte Sätze aus Ludwig Wittgensteins „Tractatus Logico Philosophicus“ vom Beginn des 20. Jahrhunderts.
„Lenz“ ist eine schonungslos exakte und dabei sehr einfühlsame, autobiographisch anmutende Beschreibung eines Verzweifelten an der Welt; auch nächtliche Eisbäder können den Verstand des jungen Mannes nicht abkühlen. Sein Leiden an der Welt ist darum so vernichtend, weil er noch an der christlichen Lehre hängt, ihr aber nicht mehr glauben kann. Die Ankettung des Solodarstellers an ein federndes Band ist nicht nur ein praktisch hilfreiches Mittel, sondern auch ein schlagendes Bild für Lenz. Roman Mucha spricht nicht nur (hinter Gesichtsschild) über Lenz, er bewegt sich auch mit ihm: hebt sich in die Lüfte, schwebt zur kongenialen akustischen Mitspielerin, kann sie jedoch angesichts des ihn zurückziehenden Bandes am Rücken nicht erreichen. Er steigt zur Brüstung empor oder sitzt wippend in der Leere; zunehmend versucht er mit weißer Kreide auf dem schwarzen Boden in Kästchen Ordnung und Spiel zu verbinden. Die Inszenierung nutzt intensiv, aber nie äußerlich die Mittel, verbindet sie dabei durchgehend mit dem Text. Mucha hält fast akrobatische Bewegung und sprachliche Durchdringung der Vorlage bemerkenswert im Gleichgewicht. Er spricht über einen leidenden Lenz, verwandelt sich nicht ihn, bildet ihn aber einfühlsam ab.
Der Textvorlage verbunden gelingen der Inszenierung subtile Verbindungslinien in unsere Gegenwart. Ohne oberflächliche Anspielungen verfolgen wir in Krisenzeiten die Krise eines freien Menschen. Die theatrale Anstalt in Moers schafft damit quantitativ minimiert, energetisch und gedanklich aber völlig überzeugend ein starkes Lebenszeichen für eine Kunst aus Körper, Stimme und Zusammenspiel von Bühnenakteuren und Publikum.