Ensembleszene

Todesahnung im Lichtspiel

Nacho Duato/Goyo Montero: Melancholia

Theater:Staatstheater Nürnberg, Premiere:26.04.2014 (UA)

Kritik zu Nacho Duato / Goyo Montero „Melancholia“ am Staatstheater Nürnberg

Zumindest die ersten Bewegungen haben diese zum Doppel verbundenen, im Abstand von 18 Jahren entstandenen Werke gemeinsam: Nacho Duatos „Por vos muero“ nimmt Anlauf zu spielerischer Kunstfertigkeit im kollektiven Slowmotion, Goyo Monteros Uraufführung „Black Bile“ im zweiten Teil des Abends schickt ein Gruppenbild im Nebel auf Seelenwanderung. Der gemeinsame Titel „Melancholia“, auf den sich die beiden spanischen Choreographen (der gefeierte Nürnberger Ballettdirektor als Gastgeber, der künftige Berliner Staatsballett-Chef als Leihgeber) bei der Verbindung ihrer handlungsfreien Stücke einigten, umfasst denkbar gegensätzliche Stimmungsbilder.

Während Duato zu spanischer Volksmusik und originalsprachiger Lyrik die Temperamente wie reife Früchte pflückt und anrichtet, gräbt Montero mit Hilfe von John Dowlands depressionsanfälligen altenglischen Lautengesängen an den Wurzeln der verdunkelten Gefühle, um Gedankenbrücken über Jahrhunderte zu schlagen. Bei der Uraufführung, mit der Goyo Montero nach einer Serie populärer Ballett-Schöpfungen programmatisch zum reinen Tanz zurückkehrt, steckt „Schwarze Galle“ schon im Titel. Er will nicht weniger als „die Facetten der Schwermütigkeit“ ausloten und stellt seiner bestens trainierten Compagnie mobile Objekte in den Weg, die gerne als Särge interpretiert werden dürfen. Müssen sie aber nicht, denn es sind genauso gut Hindernisse auf der Suche nach einem Ausweg wie sturmreife Barrieren gegen Hoffnungslosigkeit und in der Verwandlung schräge Wände für metaphorisch belastbare Kletterpartien. Der Choreograph lässt ausdrücklich offen, ob der Zuschauer seine Visionen als Rückschau oder Traum deuten soll.

Mindestens so wichtig wie der Treibstoff Musik ist für die Inszenierung das Lichtdesign, denn Montero entwickelt mit Olaf Lundt daraus eine zweite Ebene, die den Tanz nicht illustriert, sondern herausfordert. Irritierend und erst allmählich schlüssig wirkt es, wie die Aktionen der Solisten in sehr kurzen Abständen abwechselnd ausgelöscht und gezoomt werden. Sie scheinen dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren, lassen sich aber weder vom Punktscheinwerfer noch von der besitzergreifenden Totalen in ihrem Konzept beirren. Das Stück ist Maßarbeit, es fasst die besonderen Talente der Tänzer in Miniaturen zusammen, baut intensive Kollektive aus diesen Details und löst das scheinbare Glück ebenmäßiger Bewegung souverän „gallig“ wieder in Zweifeln auf. Der Bewegungsfluss, den Montero mit sprudelnden Ölquellen vergleicht, hat alle Entfaltungsmöglichkeiten: Von der Vorderbühne über dem geschlossenen Orchestergraben bis zur hintersten Brandmauer erreicht die Bühne deutlich mehr Tiefe als Wagners „Walküre“ an gleicher Stelle. Ob das Stück mit seinem willkürlich offenen Ende wirklich „fertig“ ist, muss wohl jeder Zuschauer für sich selbst beantworten. Eindrucksvoll ist es allemal.

Als Montero anno 1998 erstmals Dowlands Lieder als „Popmusik der Renaissance“ für seine künstlerische Perspektive wahrgenommen und tatsächlich in genau die Reihenfolge gebracht hatte, die er nun 2014 choreographierte, war Nacho Duato mit „Por vos muero“ (Für Euch sterbe ich) schon zwei Spielzeiten auf dem Markt. Heute darf dieses Werk als zeitlos gelten, unabhängig vom aktuellen „Melancholia“-Verbund – aber eben auch in diesem Rahmen. Es ist ein technisch anspruchsvolles, auf Schwerelosigkeit setzendes Stück, das mit diskret augenzwinkerndem Hüftknick die tänzerische Sensibilität für entspannende Momente immer wieder aus dem drohenden Klammergriff der Trauer befreit. Die Nürnberger Compagnie, die bereits 2011 mit „Duende“ von Duato gut zurecht kam, stürzt sich gekonnt in die schwierige Aufgabe, die abgeschlossene Inspiration wie neu einzufädeln, überwindet gelegentliche Fleiß-Überanstrengungen samt der Ausrutscher ins Leistungssportliche schnell und ist am Ende nicht dem Duplikat hinterher gehechelt, sondern hat den altmeisterlich anmutenden Stil jugendfrisch erobert.

Das Nürnberger Ballett-Publikum, das Goyo Montero in allen Premieren wie ein Fanclub feiert, fand seinen Uraufführungs-Teil denn auch besonders bejubelnswert. Dass sich die Berliner auf Nacho Duato freuen können, würde es aber garantiert ebenfalls bestätigen.