Foto: v.l.n.r. Anjo Czernich, Paula Dieckmann, Hannes Rittig, Nora Hickler © Peter van Heesen
Text:Gunnar Decker, am 22. Juni 2025
Pierre Carlet de Marivauxs „Der Streit“ wird am Theater Vorpommern zu einem modernen Experiment. Hannes Hametner fokussiert das Stück auf die Frage der Verführbarkeit, den Liebesbetrug und ermutigt dabei die Klugheit der Sinne zu nutzen.
Jeder kennt das Kloster Eldena bei Greifswald. Sogar derjenige, der es an diesem Abend zum ersten Mal betritt, hat ein Bild im Kopf, das man fast eine Ikone nennen kann. Denn Caspar David Friedrich malte es um 1800 und lehrte uns damit die Ruinen zu lieben. Eine Ruine ist das Fragment eines Gebäudes und hat – inmitten des Verfalls – doch einen entscheidenden Vorzug: sie eröffnet Freiräume für Eigenes. Ruinen sind nutzlos, darum bergen sie Poesie. Und diese ist bekanntlich aus Träumen aller Art gemacht.
War es eine gute Idee, an diesem Ort der Romantik das Stück eines Aufklärers der skeptischsten Art zu spielen? „Der Streit“ von Pierre Carlet de Marivaux, der 1763 in Paris starb, ist alles andere als romantisch. Es feiert die Desillusionierung, forciert das Prinzip Widerspruch. Denn Marivaux glaubt nicht an Harmonie, er glaubt überhaupt nicht. Über sich selbst sagte er einmal: „Man sollte ihm raten, weniger zu denken.“
Normalzustand Disput
Im Französischen heißt das Stück „La dispute“. Das meint etwas anderes als im Deutschen „Der Streit“. Denn für den französischen Intellektuellen ist der Disput ein Normalzustand, Streit dagegen hat immer etwas von harter Konfrontation, mehr noch: von Kollision. Geht es darum? Nein, hier findet etwas erstaunlich Modernes für die Bühne statt, wenn auch im Gewand des Rokoko: ein Experiment. Die Versuchsanordnung zeigt uns den Fürsten (Hannes Rittig) im Disput mit Hermiane (Christiane Schoon) über die Frage, wer mit den Treuebrüchen begann, die Männer oder Frauen? Kurzerhand entschließt man sich, das gleichsam unter Laborbedingungen herauszufinden. Man trennt sechs Kinder nach der Geburt, separiert sie von allen äußeren Einflüssen bis sie achtzehn Jahre alt sind und lässt sie erst dann aufeinandertreffen. Adam und Eva werden so aus dem künstlichen Paradies, in dem sie gefangen gehalten wurden, abrupt herausgerissen.
Klingt nach anstrengender empirischer Forschung. Aber Hannes Hametner weiß, was er diesem Ort und dem Sommertheater schuldig ist: Unterhaltung, aber keine billige. Darum inszeniert er die Suche nach dem Gen der Untreue hier gleichsam als eine musikalische Expedition ins Reich der Liebe. Und da diese bekanntlich ebenso hellsichtig wie blind macht, muss man sich mit viel Ironie wappnen, um nicht im Sumpf der Begierden und Sehnsüchte zu versinken.
Liebesrausch und Verführbarkeit
Also hören wir gleich zu Beginn: „Lass es Liebe sein!“ von Rosenstolz. Denn bekanntlich ist „Liebe alles“ – wobei die vom Liebesrausch bis zur Unzurechnungsfähigkeit benebelten Hirne nicht unbedingt darauf warten, vom kritischen Geist gerettet zu werden. Allerdings kann das Experiment nicht nachweisen, ob Männer oder Frauen prädestinierter für die Untreue sind. Stattdessen: Verführbar bleibt, wer Sinne hat – aber oft verfliegt der Rausch dann so schnell wie bereits bei Shakespeare im „Sommernachtstraum“.

Frank Warnek, Paula Dieckmann, Jakob Schleert. Foto: Peter van Heesen
Immerhin wird hier auf der Bühne von Eva Humburg im Innenraum der Klosterruine Eldena extra viel Pink und Rot aufgeboten. Im Übermaß der Emotion erwacht die Parodie. Zusammen mit Andreas Dziuk, dem musikalischen Leiter, gelingt es, hier einen sicheren Spiel-Rhythmus aus Singen und Sprechen zu finden. Die philosophischen Sentenzen Marivauxs über die Liebe, die gewiss eine Art bunter Vogel ist, den niemand zähmt (um das Stück einmal auf einen Schlagervers zu bringen), gefallen sich sichtlich selbst zu sehr – da ist dann musikalische Ausnüchterung vonnöten: „Ich find´ es wunderbar, dass Du mich nicht siehst.“
Gegen die Idylle
Auf einem Tuch an der Backsteinmauer, die zum Bühnenhintergrund wird, sehen wir lauter Wolken, fast blau und fast eckig sind sie ein Fingerzeig gegen jede Form von Idylle. Die wollen weder Autor Marivaux noch Regisseur Hametner. Aber was dann? Vernunft, die sich notfalls mit Aberwitz Bahn bricht! Marivauxs grandioser Zeitgenosse Stendhal schrieb ein wenig bekanntes chaotisches Buch über die Liebe, das die These entwickelt, es handele sich hierbei um eine „Kristallisation“, wobei nicht gesagt wird, von was eigentlich. Er hätte ebenso gut behaupten können, dass die Liebe eine Form von Verflüssigung sei. Vielleicht entzieht sich der Eros aller akademischen Erörterung?
Einziges haltbares Ergebnis des Experiments, dem wir beiwohnen: Verliebte leiden zwar unter Verlust des Verstandes, aber sie merken es nicht. Stattdessen bejubeln sie jene verzückte Selbststeigerung, die Außenstehenden verdächtig ist. Die Schauspieler stürzen sich mit allem Furor in die Freiräume, die der Abend ihnen bietet, kalauern sich im Gewande höfischer Höflichkeit bravourös durch knapp zwei Stunden Spiel mit allem, was ihnen ihn die Quere kommt und das ist einiges – und sei es ein klemmender Reißverschluss von Eglé (ebenso vituos wie forsch im Spiel mit der Weltfremdheit: Paula Dieckmann), der mit vereinten Fingerspitzen, Geduld und Wortspielen nach Minuten wieder in Funktion gebracht wird: „Wir reizen ihn aus, den Reizverschluss.“
Philosophischer Ton
Marivaux hat das Chaos des „Sommernachtstraums“ in ein Salonstück über die Unzuverlässigkeit der menschlichen Sinne gebracht, mit dem distinguierten Ton des Philosophen samt herablassender Attitüde. Regisseur Hametner dagegen ermutigt alle Beteiligten, sich der Klugheit ihrer Sinne wenigstens probeweise zu überlassen. Das machen dann Anjo Czernich, Jakob Schleert, Nora Hickler und Franz Warnek mit jederzeit spürbarer Lust am Spiel – bis hin zum musikalisch sekundierten Nonsens, der sich einmal sogar in Zeitlupe auf der Bühne breit macht, getreu dem Kalenderspruch, der hier als Schlussweisheit dargeboten wird: „Die Welt ist größer, als ihr ahnt.“ Wer wollte das bezweifeln hier in den Ruinen des Klosters Eldena, die seit Jahrhunderten dem gänzlichen Verfall ihren morbiden Glanz entgegensetzen.