Foto: © Jochen Quast
Text:Guido Krawinkel, am 9. Mai 2025
Am Theater Ulm inszeniert Kay Metzger eine weitere Uraufführung von Charles Tournemire, die stilistisch einizigartige Musik mit sich bringt. Die Franziskus-Oper „Le petit pauvre d’Assise“ über dunkle Zeiten und Menschheitsfragen überzeugt in einer sensationellen Aufführung.
Man kann es nicht anders sagen: Was da gerade in Ulm passiert, ist musikhistorisch betrachtet eine Sensation. Intendant Kay Metzger hat mit „Le petit pauvre d’Assise“ nun schon die zweite Oper des französischen Komponisten Charles Tournemire ausgegraben und uraufgeführt. Nach dem 1926 vollendeten Opus „La Légende de Tristan“, das man in der Spielzeit 2022/23 auf die Bühne gebracht hat, ist nun Tournemires Franziskus-Oper an der Reihe, 1939 vollendet und alsbald in der Schublade verschwunden. Erschwerend für das Werk kam die Tatsache hinzu, dass Tournemire kaum vier Wochen nach Vollendung der Partitur unter mysteriösen Umständen im Atlantik ertrunken ist, so dass selbst Tournemire-Vertrauten wie Olivier Messiaen das Werk völlig unbekannt war.
Dass ausgerechnet Tournemires Bruder im Geiste Messiaen dann ebenfalls gegen Ende seines Lebens eine Franziskus-Oper komponiert hat, ist eine umso erstaunlichere Koinzidenz, wie überhaupt Tournemire als Schlüsselkomponist zwischen den Generationen Francks und Messiaens ein ganz erstaunlicher Komponist ist. Im Grunde genommen ist er der entscheidende Link zwischen dem spätromantischen Melos des „Pater seraphicus“ Franck, dessen Nachfolger als Titularorganist an der Pariser Kirche Ste. Clotilde er war, und der stilistischen Singularität eines Messiaen mit seinem von der katholischen Theologie durchdrungenen Oeuvre. Bei Tournemire findet sich beides, wiewohl der ebenso erzkatholische wie eigensinnige Geist stets völlig unbeirrt von den Strömungen seiner Zeit seinen eigenen Weg gegangen ist.
Franziskus-Oper und düstere Zeit
In seiner Franziskus-Oper behandelt Tournemire die wesentlichen Fragen. „Wohin steuert die Menschheit?“ hatte er noch während der Arbeit daran geunkt, in einer düsteren Zeit, die Tournemire Düsteres befürchten ließ. Mit der Figur des Heiligen Franziskus präsentiert er eine Lichtgestalt, die allem Weltlichen entsagt und einen Stein ins Rollen bringt, der nicht mehr aufzuhalten ist. In Kay Metzgers Inszenierung wird Franziskus zwar am Ende von seinen Weggefährten im Stich gelassen – nur seine Gefährtin Klara bleibt bis zum Schluss an seiner Seite – doch ist das nur die halbe Wahrheit. Mit dem Orden der Franziskaner hat er eine Bewegung gegründet, die seinen Idealen der Armut, des Mitgefühls und der Hingabe an andere bis heute verpflichtet ist.

Maryna Zubko, David Pichlmaier, Opernchor und Statisterie des Theaters Ulm. Foto: Jochen Quast
Den Weg des arroganten Schnösels aus reichem Hause zum Stigmatisierten zeichnet Metzger in durchaus schlüssiger Weise nach, obwohl die frömmelnde Romanvorlage des Mystikers und Rosenkreuzers Joseph Péladan Franziskus‘ Leben zwar schildert, im Grunde genommen aber keinen besonders dramatischen Plot bietet. Metzger findet aber immer wieder sinnige und am Ende sogar zutiefst ergreifende Bilder, die den Wandel von irdischem Bling-Bling, das etwas schrill mit knalligem Pink in Szene gesetzt wird, hin zu abstrakter himmlischer Verklärung in treffender Weise illustrieren und verdichten. Das Empfangen der Wundmale Christi ist so eine Szene, ebenso der Einfall, den schon entrückten Franziskus seine letzten Sätze aus dem Off singen zu lassen, oder eine Szene, in der Franziskus allen weltlichen Plunder samt jeglicher ihm übergepfropfter Erwartungen zurückweist.
Zudem bleibt Metzger sich treu: schon die Sagengestalt des Tristan hat er aus seiner ursprünglichen zeitlichen Verortung herausgelöst und in die Neuzeit verpflanzt. Bei Franziskus wird aus dem Mittelalter ein zeitloses, aller Gegenständlichkeit weitgehend enthobenes Kontinuum, was sich auch im symbolhaften Bühnenbild (Ausstattung: Heiko Mönnich) sehr deutlich zeigt.
Die Musik Tournemires
Die stilistische Einzigartigkeit der Musik Tournemires wird an diesem Abend sehr deutlich. Musikalisch erfährt der eine enorme Steigerung. Zu Beginn hört man das Orchester der Stadt Ulm noch deutlich mit der an dieser Stelle arg spröde wirkenden Partitur kämpfen. Da fügt sich kaum etwas zusammen, zudem klappert es hier und da durchaus noch. Doch der sehr engagiert dirigierende GMD Felix Bender reißt „sein“ Orchester zunehmend mit, bindet das Ensemble auf der Bühne vorbildlich ein und auch Tournemires Musik wirkt stetig konziser, stilistisch charakteristischer.
Von der erotischen Klangsinnlichkeit mancher Zeitgenossen Tournemires wie etwa Debussy oder Ravel ist sie gleichwohl weit entfernt. Dafür war der Maître, wie man Titularorganisten in Frankreich gerne nennt, doch zu sehr spiritueller und theologisierender Mystiker. Doch verdichtet Bender die Musik selbst an den Stellen, an denen Tournemire die Partitur bis zu völlig nackten Melodielinien ausdünnt, zu Momenten höchster Intensität und Stringenz, was mit Metzgers mehr und mehr packender Inszenierung kongruent geht.
Sängerisch ist der Abend sehr erfreulich. Der von Nikolaus Henseler einstudierte Chor, aus dem auch einige kleinere Rollen besetzt sind, hat nicht viel zu tun, macht seine Sache aber vorbildlich. Sehr charakteristisch sind hier die Musen besetzt und auch das archaische Magnificat der Mönche bei Klaras Berufung ist profund. Samuel Levine als Franziskus macht seine Sache großartig. Er verkörpert die Figur des Franziskus in all ihren Facetten ausgesprochen vielschichtig, darstellerisch wie auch stimmlich. Ein Ereignis und zweifellos der stärkste Sänger an diesem Abend! Aber auch Maryna Zubko als seine Gefährtin Klara macht mit ihrem dramatisch-wuchtigen Sopran eine außergewöhnlich gute Figur. Ferner tragen unter anderem Milcho Borovinov als Guidoy, Cornelius Burger als Bernadone, Dae-Hee Shin als Favarone und Markus Francke als Bernard zum Gelingen dieser alles in allem wahrlich sensationellen Aufführung bei.