Foto: © Andreas Lander
Text:Roland H. Dippel, am 10. November 2025
Am Theater Magdeburg inszeniert Intendant Julien Chavaz die Operette „Clivia“ in exzessiver Opulenz. Dirigent Kai Tietje sorgt für heiße Beats – und Ballett wie Ensemble lassen sich vom Premierenpublikum feiern.
Dieser Operettenabend hat mit 100 Minuten bis zur Pause und bei über drei Stunden genialische Überlänge. Die Garnituren der von den Figuren bei ihren Intrigen und Havarien vertilgten Cocktail-Rationen werden immer größer, zum Schluss sogar gekrönt mit einer Flamingo-Attrappe. Die exzessive Opulenz im Opernhaus Magdeburg ist Programm: Laut brechen die Jazz-Sounds der Magdeburgischen Philharmonie über das erst schweigsame, dann immer mehr enthusiasmierte Premierenpublikum herein. Dieses freut sich vor allem über Anmerkungen zum Verreisen und Anspielungen auf den Imperialismus. Sentimentales Schwelgen gibt es unter dem Dirigenten Kai Tietje nicht, allenfalls Prägnanz und heiße Beats.
Überwiegend agieren Musical- und Schauspielstimmen in der im Machtübernahmejahr 1933 im Berliner Theater am Nollendorfplatz uraufgeführten Operette „Clivia“. Ein Schwellenwerk: Nico Dostals erstes und sofort erfolgreiches Bühnenstück wurde noch in der Weimarer Republik konzipiert. Die Magdeburger Produktion orientierte sich daran und nicht am verkitschenden Operettenideal der Nazis, welche noch bis Ende des 20. Jahrhunderts das seichte Operettenklischee bedingen sollte.
Operette als mondäne Großstadt-Unterhaltung
Die Saat der seit 10 Jahren voranschreitenden Neubewertung der Kunstform Operette als mondäne Großstadt-Unterhaltung mit intelligentem Nonsens für alle geht in Magdeburg voll auf. Vor und hinter dem silbernen Fadenvorhang jagen sich auf der von Mariia Bokovnia aufgedonnerten Bühne Farborgien in Bambus, Pink, Orange und Gelb. Jean-Jacques Delmotte sparte an Stoffen weder für Männer noch Frauen. Hohe Rockschlitze, Schlaghosen und Rüschenpracht gibt es für die Filmdiva Clivia Gray, aber auch für das gleich zu Beginn mit einer Latino-Nummer aufwirbelnde Ballett (Choreografie: Daniel Daniela Ojeda Yrureta). Wunderbar die Schwanensee-Karikatur mit Tütüs unter Matrosenstreifen für das Ballett und den korrupten wie unverschämt gutaussehenden Filmboss und Putschisten E. W. Potterton. Benjamin Sommerfeld als Strippen ziehender Filmboss Potterton repräsentiert die Haltung der Produktion perfekt: Kein Grandeur mit grauen Schläfen, sondern ein korrupter Egozentriker, weil Smartness einfach geil ist.
Was gespielt wird, geht auf. Die elektronische Verstärkung der Dialoge setzt der opulenten Künstlichkeit noch mal eines drauf. Magdeburgs Intendant Julien Chavaz, der mit lustig leichter Hand Tanz, Chor und Soli koordinierte, hatte auf Basis der Fassung für die Komische Oper Berlin mit Kai Tietje, der auch damals dirigierte, und Dramaturg Christoph Clausen eine eigene Einrichtung erstellt. Frei nach der Realität wird der Journalist Lelio in der ausgedehnten, erfundenen Rahmenhandlung zum Jungen Louis Londres, eine Bühnen-Reinkarnation des gleichnamigen französischen Investigativjournalisten. Der träumt sich bei seinen Großeltern in die Story hinein und zum Autor eines großen Aufmachers in der New York Times hinauf.
Carmen Steinert – jüngst mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis beim Berliner Theatertreffen ausgezeichnet – spielt ihn so naiv wie nötig, aber auch als filouhaften Galan mit Schwächen für Yola, die Generalin und Anführerin der Guerilla-Truppe Tanzballett Kommando Spitze. Die Frauen wirken leicht hart und nur Undine Dreißig als Erfinder Gustav Kasulke mit dem Hit vom „Verreisen“ gibt sich einigermaßen weich. Jeanett Neumeister als Generalin Yola Damigo könnte im anderen Kontext eine „Walküre des Salons“ sein.
Faustregel: „Jeder Auftritt in einem neuen Kleid“
Schneidige Coolness wirkt auf die Beziehung des Hauptpaars. Beim Vorantasten vom ersten Flirt zur Zweckheirat des amerikanischen Superstars mit Juan Damigo will sich dann doch kein Happy End entwickeln. Damigo hat zwei Gesichter, wird vom Latin Lover zum kalt durchgreifenden Präsidenten des Fantasiestaats und geht gegen die US-amerikanisch sozialisierten Putschisten drastisch vor. Andreas Bongard als Präsident hat den leichter darstellbaren Switch in die Härte. Für Anja Backus, die Darstellerin der Clivia, ist es trotz der Operetten-Faustregel „Jeder Auftritt in einem neuen Kleid“ schwer. Denn der Filmdiva Clivia Gray bleibt neben der Schauspielerei eigentlich so gar keine Alternative.
Wenn man bei Chavaz genau hinschaut, unterläuft er das sentimentale Operettenklischee wie auch den progressiven Blick auf die Kunstgattung. Diese Clivia findet aus der Performance trotz alternativer Pläne nicht heraus und bleibt deshalb eindrucksvolle Kunstfigur-Hülse. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dass dieses lärmende, aber wunderbare Spielen einem Nichts gilt und eine opulente Sinnfreiheit feiert, ist auch eine Aussage. Am Ende will der kleine Louis nicht mehr Journalist, sondern Filmregisseur werden. Fazit: Für die Wahrheit interessiert sich also in Chavaz‘ Inszenierung keiner – das Dilemma zwischen greller Sensation und essenzieller Substanz bleibt. Solange diese Message sich in solchen Theaterfeuerwerken kundtut, kann man gut damit leben. Ekstatischer Applaus.