Foto: Ensemble mit Paula Emmrich (Herzeloide) und Christoph Hohmann (Merlin) © Matthias Stutte
Text:Andreas Falentin, am 11. Mai 2025
Schauspieldirektor Christoph Roos formt Tankred Dorsts „Merlin oder Das wüste Land“ am Theater Krefeld zu einem brillanten Essay über unsere Zeit. Dabei zieht ein starkes Ensemble das Publikum in seinen Bann.
Thomas Rump hat wirklich ein wüstes Land entworfen, einen dunklen Boden mit versteckten Löchern für Auf- und Abtritte, und mit zahlreichen Ascheflusen, die sich durch die Bewegung der Akteure immer neu verteilen. Aus den 280 Buchseiten von Tankred Dorsts Stück hat Regisseur Christoph Roos, Schauspieldirektor am Theater Krefeld Mönchengladbach, einen szenischen Essay entworfen, einen schmerzenden Text über unsere Zeit.
Das Schwert im Stein, das Artus zum König macht, die Tafelrunde, der Gral, die Dreiecksgeschichte Artus – Ginevra – Lancelot, die problematische Beziehung zum außerehelichen Sohn Mordred, das tragische Ende. Das sind die bekannten Stationen des Stücks, die Roos nicht erzählt, sondern sich ereignen lässt und spiegelt. Er zeigt die Mittel des Theaters vor, um Distanz zu gewinnen. So wird, Dorst folgend, mit Zuschauern gesprochen, die Souffleuse löst durch ein dringendes Bedürfnis eine Pause aus, auf der Bühne wird über den Intendanten geredet, der selbst mitspielt. Für Parzivals eingeschränkte Weltsicht verwendet die Inszenierung riesige, sichtbar geführte Ritter-Puppen (ebenfalls von Thomas Rump gestaltet). Und Ginevras Liebe wird sozusagen ausgelagert. Sie findet unter dem Titel „Merlin fest. Ginevra“, inszeniert von Luis Liun Koch mit vier Ginevra-Darsteller:innen, zeitgleich im Studio des Theaters Mönchengladbach statt. Zwei Live-Schalten führen die zwei Aufführungen zusammen.
Zeit und Alter, Chaos und Ordnung
In der Krefelder Inszenierung des Doppeltheaters geht es um unsere, heutige Welt und ihre Triebfedern, um Machtgier und Gewalt, um Geschichtsvergessenheit, um Jugend und Alter, um Parzival (Helena Grossmann) und Mordred (Cornelius Gebert, der auch den jungen Artus spielt), die sich immer erproben und nach Macht streben, um den alten Artus, der das nicht mehr kann und in Frage stellt, und um den alterslosen Merlin. Der ist, bei Dorst, nicht nur vom Teufel gezeugt, sondern auch von Hanne geboren, einer gewöhnlichen Frau. Sie und ihr Bruder, ein Clown, stehen in der Inszenierung für Chaos – und Ordnung. Sie räumen die Bühne auf, beruhigen die Dramaturgie durch sehr schöne Gesangseinlagen und verwirren sie auch immer wieder. So werden Jannike Liebwerth und Paul Steinbach zu den heimlichen Stars des Stückes. Sie begleiten auch den König, neben Mark Twain (dem von Dorst in die Handlung integrierten Schriftsteller von „A Conecticout Yankee at King Arthur’s Court“) und dem kleinen Sir Kay, Artus‘ Milchbruder. Keine Ritter, eher Freaks, keine Brillanz, nur Gespräch auf der Bühne.
Dazu kommen die fantasievollen, farbigen Kostüme von Dietlind Konold und die bemerkenswerte Musik von Aylin Leclaire, die Monumental-Filmmusik mit Minimal Music und barocken Linien verbindet. So werden der soziale Mensch Artus, der beziehungslose Intellektuelle Merlin und das bildungslose Naturkind Parzival lange parallel geführt, bis im letzten Drittel des Stückes, Mordred ins Zentrum tritt. Cornelius Gebert erschafft einen faszinierenden Gewalt-Täter. Mit ihm kann man Mitleid haben, man kann ihn schuldig sprechen, auf jedem Fall muss man ihm zuhören. Und man denkt, nicht zufällig, an Trump und die Mächtigen unserer Zeit.
Die Tragödie des sozialen Menschen
Schließlich kann Artus nicht mehr. Er sucht nach Sinn, weil die Familie, Mordred und Ginevra, ihm weggebrochen sind, weil die Clique, die Tafelrunde, sich zerstreut, und die Gesellschaft, die er aufgebaut hat, in Trümmern liegt: Weil der soziale Mensch allein ist und nicht mehr herrschen kann. Dass der alte Mann keine Dynamik mehr entwickeln kann, kommt in einem langen Gespräch zwischen Artus (Adrian Linke) und Merlin (Christoph Hohmann) im letzten Teil heraus; der läuft sehr langsam und genau ab, wird zum Fazit des Abends, als eine Auseinandersetzung über ein menschliches Paradox: Der sozial verantwortlich Agierende kann kein Herrscher sein, eben gerade weil er sozial ist. Anschließend geht der brillante Essay in die dramatisch ausgespielte Tragödie von Artus‘ Niedergang über.
Fast vier Stunden sieht und hört man meist atemlos zu. Neben den bereits Genannten auch Nele Jung und Bruno Winzen als funktional-blassem Liebespaar, als glaubhaft liebende Ginevra und Lancelot, Esther Keils surrealem Porträts als Teufel und Sir Kay, Paula Emmrich in vielen kleinen Rollen und Intendant Michael Grosse als grobem Sir Orilus und ängstlichem Sir Lamorak. In Krefeld ist ein sehr heutiger „Merlin“ zu erleben, sozusagen neuste Nachrichten aus dem wüsten Land.