Silvia Weiskopf (Hexe 1), Beritan Balcı (Hexe 2) und Bettina Engelhardt (Margarete Faust) Foto: Birgit Hupfeld

Feminismus als Machtkritik

Fatma Aydemir: Doktormutter Faust

Theater:Schauspiel Essen, Premiere:09.09.2023 (UA)Vorlage:FaustAutor(in) der Vorlage:J.W. von GoetheRegie:Selen Kara

Bei der Uraufführung von Fatma Aydemirs „Doktormutter Faust“ zur Eröffnung der Spielzeit am Schauspiel Essen unter der neuen Doppelintendanz von Selen Kara und Christina Zintl führt Kara selbst Regie. Aydemirs Theatertext-Debüt spielt so gelungen wie ironisch mit der Sprache sowie aktuellen Diskussionen um Abtreibung, Religion oder Gender.

Was ist es, das uns Menschen im Inneren zusammenhält? – Das bleibt von Fatma Aydemirs Goethe-Überschreibung als Grundgedanke hängen. „Faust” also. Bei Aydemir in einer feministischen Deutung. Im Zentrum steht die Figur Dr. Margarete Faust, eine Uniprofessorin für Geschlechterforschung, in deren Realität die Wissenschaft längst nicht mehr angesehen ist. Denunziert von der Gesellschaft, gefeiert von ihren Studierenden sieht sie dem Ende ihrer Karriere entgegen.

In Embryonalhaltung dreht sich auf dem schwarzen Vorhang die Projektion (Video: Florian Schaumberger) eines erwachsenen, menschlichen Körpers. Das steht so symbolisch wie im Stückkontext logisch mit der Voreingenommenheit in Kontrast, die mit dem voranschreitenden Altern einhergeht — von dem Moment an, in dem wir auf die Welt kommen, erwachsen wir in einer Struktur aus Regeln und Vorstellungen, sortieren die Welt und uns in fein säuberlich angelegten Schubladen. Dann steigen schemenhafte Figuren auf der Bühne (Lydia Merkel) aus einem Nebel auf, bäumen sich grotesk gegen die Schwerkraft auf (Dramaturgie: Margrit Sengebusch). Vielleicht wollen sie sich von dieser Welt als Kerker lösen, was so ungelenk und schmerzhaft aussieht wie nahbar ist.

Schwestern in der Hexenküche

Nicht nur Dr. Margarete Faust (Bettina Engelhardt) als weiblich gelesene Person soll von den Hexen (Silvia Weiskopf, Beriten Balcı) von dem sie objektinfizierenden Blick erlöst werden. Alle Figuren der Inszenierung drücken gegen platte Interpretationsgrenzen. Dieser grotesk-feinsinnige Mephisto (Nicolas Fethi Türksever) verkörpert nicht allein „Das Böse” — denn so gesehen wandelten auf der Welt acht Milliarden Mephistos — sondern interessiert sich für den Genuss in einer Leistungsgesellschaft.

Faust erkennt sich im Spiegel nicht als jüngeres Selbst, sondern erblickt einen ihrer Studierenden, Karim (Eren Kavukoğlu). Was sich einbrennt: In diesem verzweigten Beziehungsnetz der Gesellschaft ist niemand allein, alle stehen in Verbindung zueinander. So zeigt die Inszenierung ein starkes Bild von Menschlichkeit, denn in jeder Begegnung oder Interaktion spiegeln sich im Gegenüber Abhängigkeiten und Fragen: Wieviel von dir steckt in mir und wieviel von mir erkenne ich in dir wieder?

Das Machtgefälle kann sprechen

Und wo bleibt Gretchen? Der Charakter manifestiert sich wieder nicht in einer Figur, sondern in irgendwie allen, angefangen bei Dr. Margarete Faust, die Täterin ist, aber auch Opfer der sie umgebenden Strukturen. Und auch Karim begreift, dass er, abhängig von seiner Aufenthaltsbewilligung in Deutschland, nicht der gesellschaftlichen Hierarchie und dem Machtgefälle entkommt.

Aydemirs Theatertext-Debüt spielt so gelungen wie ironisch mit der Sprache sowie aktuellen Diskussionen um Abtreibung, Religion oder Gender. Sie hat den Stoff ins Heute eingebettet, schreibt nicht unbedingt gegen Goethes „Faust”, sondern hilft, ihn im Hier und Jetzt zu interpretieren. Durch ihre Nahbarkeit reicht die Inszenierung weit in den Zuschauerraum hinein. Unverblümt und kritisch holt die Autorin das Publikum mit ins Boot — denn zu allen guten Stories gehören nicht nur Täter:innen und Opfer, sondern auch die, die alles mit ansehen.

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