Foto: Ensemble des Semperoper Ballett in "Coppélia" © Costin Radu
Text:Andreas Berger, am 15. März 2011
Swanhilda wohnt in einem Teepott. Die Wände und Säulen der kleinen Stadt sind aus Porzellan, und auch das Mädchen Coppelia, das der skurrile Physikus Dr. Coppelius geschaffen hat, ist eine Porzellanfigur, die sich neigen und grüßen kann wie das Püppchen einer Spieluhr. Ausstatterin Roberta Guido di Bagno hat die vielgespielte Ballettkomödie von Léo Delibes für die Semperoper Dresden in ein Land aus Meißener Porzellan verlegt, dessen schöner Außenschein sehr gut kontrastiert mit dem alchimistischen Innenleben der Werkstatt des Puppenmachers im Mittelakt. Die schrägen Balken, die vollgerümpelte, drückende Decke mit Gliederpuppen lassen sogar an das Kabinett des Dr. Caligari denken, für Johann Friedrich Böttger fehlte allerdings der Brennofen.
Auch hier im Atelier dienen Meißener Porzellanfiguren als Vorbild für die Automaten, die Swanhilda und ihre Freundinnen bei der heimlichen Erkundung dieses Schauerorts zunächst erschrecken, bis sie die Technik durchschauen und ihre menschliche Überlegenheit ausspielen. So mimt Swanhilda, als Coppelius sie in seinem Haus überrascht, die Puppe Coppelia und treibt dabei den selbst verduzten Schöpfer in den Wahnsinn. Glaubt er doch, dem gleichfalls ins Haus gedrungenen Burschen Franz, der sich im Wortsinn in Coppelia verguckt hat, in einem frankensteinschen Experiment die Lebenskräfte entziehen und seiner Puppe Coppelia übertragen zu können. Doch längst ist es Swanhilda, die an ihrer Statt ihm und der Wissenschaft auf der Nase herumtanzt. Dass sie sich gleichzeitig so den abtrünnigen Liebhaber Franz erhält, ist der lebenspraktische Nebensinn ihrer Bemühungen. Und so triumphiert in dieser technikkritischen Geschichte das natürlich-schlichte, aber durchaus selbstbewusste und bauernschlaue Mädchen Swanhilda über die Verdrehtheiten des Intellekts. Denkt man das bis zu heutigen Gen- und Klonversuchen weiter, ist das so romantisch-konservativ wie ökologisch-progressiv.
In Dresden freilich versagt man sich solche Aktualisierungen, hat sich aber statt der verbreiteten Fassung Marius Petipas die in Europa seit 34 Jahren nicht mehr gespielte Version von George Balanchine als deutsche Erstaufführung gesichert. Da muss Jón Vallejo als Franz noch immer arg pantomimisch mal auf Swanhildas Teepott, mal auf Coppelias Balkon weisen und die Hand aufs Herz drücken, um seine gespaltenen Gefühle auszudrücken. Erst im dritten Akt, wenn zur Porzellanglockenweihe die allgemeine Hochzeit gefeiert wird, bahnt sich in den allegorischen Divertissements etwas von Balanchines abstrakter Choreografie an. Da bilden zu Delibes bekanntem Walzer der goldenen Stunden Schülerinnen und Studentinnen der Palucca-Schule symmetrische Muster, quellen aus einem kleinen gedrängten Kreis zu bühnengreifendem Wirbel und erfüllen so das Fest mit harmonischer Energie. Bevor die Compagnie mit zackigen Sprüngen die feindlichen Kräfte des Krieges als Geschlechterkampf gegeneinanderführt. Die Damensoli erinnern an Balanchines Juwelen-Trio, und bei Sangeun Lee und Claudine Schoch strahlen sie nicht nur korrekt, sondern funkeln sie auch.
Im Pas de deux darf Vallejo mit Drehsprüngen und Entrechats männlich auftrumpfen. Doch der Abend gehört nun mal dem weiblichen Raffinement Swanhildas. Anna Merkulova spielt wunderbar die unter Bravheit verborgene Überlegenheit des cleveren Mädchens aus, gibt ihr zuweilen ironische Gebärde und dabei auch tänzerisch eine spitzensicher wirbelnde Brillanz, die sie zum Mittelpunkt der Aufführung macht. Ralf Arndt ergänzt mit Charakterpantomime als Coppelius – auch Balanchine erzählt nicht, ob er ein gefährlicher Quacksalber oder ein skurriler Wissenschaftler im Dienste des menschlichen Fortschritts ist. Dresden erweist sich so wiederum als Stadt des ästhetisch entschlackten Märchenballetts, das sicher viele junge Zuschauer für diese Kunstform begeistern wird. Ein Psychologe ist Balanchine freilich nicht.