Rasantes Bildertheater zwischen Realem und Irreal-Mythischem. Hier das Ensemble von "Der goldene Topf" am Schauspiel Stuttgart

Surreale Bilderwelten

Nach E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf

Theater:Schauspiel Stuttgart, Premiere:18.05.2019Regie:Achim Freyer

Landauf, landab werden in Baden-Württemberg derzeit dramatische Fassungen zu „Der goldene Topf“ von E.T.A. Hoffmann entwickelt. Der 85jährige Maler und Bühnenbildner Achim Freyer hat nun für das Schauspiel Stuttgart ein großes Bildertheater, nein Totaltheater geschaffen, das schon vor der Vorstellung mit einem Leierkastenauftritt vor dem Theater beginnt und sich im Foyer fortsetzt. Wenn man den Zuschauerraum betritt, wird man von einer Akkordeonspielerin mit überdimensionierter Maske (Anna-Maria Hölscher) geleitet. Auf der Bühne, eigentlich einem Spiegelkabinett, laufen merkwürdige Gestalten herum, die der Commedia dell’arte entsprungen sein könnten, aber aus der Ferne manchmal auch an die triadischen Figuren von Oskar Schlemmer erinnern.

Es ist gut, dass man sich vor Beginn ein bisschen einsehen kann. Der Zuschauerraum wird von zig kleinen farbigen Linien erleuchtet. Nach vorne hin wird die Bühne durch einen Gazevorhang abgeschlossen, davor hockt in einem Sessel eine schwarzgekleidete Marionette, die, wie sich später zeigen wird, der Student Anselmus ist. Der hat sich in ein grünes Schlänglein verguckt, in die Tochter des Archivarius beziehungsweise des Salamanderkönigs. Ganz links außen steht, hinter dem Standort der Percussion von Bernd Settelmeyer, eine Plastik, von einer Möwe gekrönt. Und links sitzt David Müller, der eine Micky-Mouse-Puppe vor sich hält.

Ja, und dann beginnt ein rasantes Theater der Bilder. Freyer erzählt die Geschichte des Anselmus in 12 „Vigilien“. Er nimmt diesen altertümlichen Begriff wörtlich: Sein „goldener Topf“ ist eine „Nachtwache“, der „Vorabend eines großen Festes“, ein Rausch, der alles zusammenbringt, was wir über die Romantik wissen: Traum, Groteske, romantische Ironie, die Überschreitung des Realen hin zum Irreal-Mythischen. Ein Spiel der Masken, die in ganz unterschiedlichen Ausformungen fungieren, als Großmaske, als Commedia-Maske, als Brutalo-Maske voller Blut, als Flachmasken, wenn die Schlänglein auftreten; und bisweilen auch ohne Maske. Ebenso bunt gemischt ist die Kleidung, von angedeuteten Commedia-Kostümen bis hin zu weißen Schleiern. Ein Fest fürs Auge – unmöglich, auf einen Blick alles zu erfassen. Mit jeder „Vigilie“, die von den Spielern angesagt wird, gehen Lichtwechsel einher, nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Zuschauerraum. Felix Dreyer schafft es, mit der Beleuchtung magische Wirkungen zu zaubern.

Wenn sich in dieser Welt die neun Spieler durch dieses Kabinett bewegen, im Spiegel vervielfachen und dazu noch die Videos von Jakob Klaffs und Hugo Reis neue Szenerien vom Wald, dem Feuerwerk über der Elbe, den Strukturen eines Kristalls bis hin zu flüchtigen Zitaten aus Disney-Filmen zaubern, tauchen merkwürdige Figuren auf. Hasenähnlich auf einem Stangengerüst etwa, oder da ist ein Frosch, der explodiert, oder ein Lastwagen, beladen mit einem Feuerlöscher, der dann in die Luft geht, oder, oder, oder… Da entfaltet sich die ganze Magie einer surrealistischen Welt des Traums mit alptraumhaften Zügen, eine Welt, die zugleich real und irreal ist. Auf jeden Fall irre schön! Der Sog der Bilder ist so mitreißend, dass man beginnt, diese wie ein Kind mit offenem Mund zu bestaunen.

Erstaunlich ist auch, dass in dieser Traumwelt der blauen Blume dennoch die Geschichte deutlich wird, der Kampf der metaphysischen Kräfte um den Studenten des Anselmus, auch die Geschichte von Veronika, die vergeblich auf ihn wartet und einen anderen heiratet, die Geschichte des Archivarius als Salamanderkönig. Dieses „Märchen aus neuester Zeit“ endet, nachdem Anselmus und Serpentina nach vielen Umwegen zueinandergekommen sind, im fahlen Nebel des Aufwachens. Der Traum ist zu Ende, verliert seine Farben. Nach und nach bilden die sich in den Hintergrund zurückziehenden Spieler eine Kette, um dann ganz im Grau zu entschwinden. „Nebel“, „Der Hauch“, „Sind es Blicke?“, „Sind es Worte?“ „Ist es Gesang?“ sind die letzten Worte des Texts und das Publikum wartet eine Weile benommen, bevor es zu klatschen beginnt.

An diesem Abend haben die Schauspieler keine Rollen, sie wechseln beständig. Im Programmheft gibt es zu jedem Spieler eine Bildagenda, die die jeweiligen Figuren, die sie darstellen, oder besser: bespielen, aufführt. Achim Freyer führt sie in einer strengen Choreografie zusammen, wobei insbesondere die Bewegungsregie der Hände und Arme eine entscheidende Bedeutung zukommt, die bewusst manieristisch wirkt (und ein wenig von der Bewegungssprache in alten Schlemmer-Videos hat). In einem so beschaffenen Totaltheater lassen sich keine Einzelleistungen beschreiben, das Ensemble ist einfach großartig: Ohne das feine Zusammenspiel von Boris Burgstaller, Gabriele Hintermaier, Ulrich Hoppe, Amina Merai, David Müller, Valentin Richter, Sven Prietz, Paula Skorupa und Felix Strobel hätte diese Aufführung nicht gelingen können. Nicht zu vergessen die Musikkompositionen von Alvin Curran, der zunächst mit Zitaten aus der Volks- und Kirmesmusik arbeitet und dann immer mehr in sphärische Akzentuierungen übergeht. Überglücklich nahm am Ende Freyer, in jeweils einem blauen und einem gelben Schuh, den Beifall entgegen und holte sogar die Technik auf die Bühne. Lange nicht mehr so gestaunt im Theater!