Helena (Lisa-Maria Sommerfeld, M.) zwischen zweimal Iphigenia (Rosa Thormeyer (l.), Oda Thormeyer (r.))

Stillhalten, Beine breitmachen

Joanna Bednarczyk: Iphigenia

Theater:Salzburger Festspiele, Premiere:18.08.2022Autor(in) der Vorlage:Euripides, Johann Wolfgang von GoetheRegie:Ewelina Marciniak

Der Bühnenboden ist grellrot ausgeleuchtet, die Schauspieler, bekleidet in hautfarbener Unterwäsche, tollen am Boden herum, eine knarzende Klangspur unterlegt das eigentümliche Körpertraining. Ein paar Minuten nur und schon ist der ganze Zinnober wieder vorbei. Weiter geht’s im Text. Schließlich steht ein großer Stoff der Weltliteratur auf dem Spielplan der Perner-Insel in Hallein: „Iphigenia“, frei nach Euripides und Goethe in einer Fassung der Autorin und Dramaturgin Joanna Bednarczyk. Immer dann, wenn Regisseurin Ewelina Marciniak nicht mehr weiterweiß, fängt das siebenköpfige Ensemble an zu tanzen; in der Choreografie von Dominika Knapik entfalten sich dabei szenische Miniaturen, die entweder an enthemmte Partynächte oder schlichte Yogaübungen erinnern, aber mit dem Rest der Handlung völlig unverbunden sind – ein sinnentleerter Kommentar. Im Lauf der zweieinhalbstündigen Aufführung verstärkt sich dieser Eindruck noch, dass hier mit viel Tamtam inhaltliche Leere übertüncht werden soll.

Antike und Gegenwart

Neudichtungen von klassischen Stoffen des Weltdramas gehören zu den elementaren Aufgaben des Gegenwartstheaters, aber gerade antike Vorlagen erweisen sich als besonders knifflig. Die Protagonisten sind bigger than life, ihre Heldenhaftigkeit und Leidensfähigkeit passen so gar nicht in die gehetzte Unübersichtlichkeit des digitalen Zeitalters. Auch verweisen die Konflikte häufig auf Situationen der antiken Welt, die mit gegenwärtigen politischen Ordnungen rein gar nichts mehr zu tun haben. Iphigenie wird der Legende nach von ihrem Vater Agamemnon geopfert, damit Wind aufkommen möge und die Flotte der Griechen in See stechen kann, um in den Krieg gegen Troja zu ziehen. Wie bitte soll man das denn in die Gegenwart holen? Dabei ist der Mord an der eigenen Tochter im Atriden-Mythos nur ein Schrecken von vielen. Die Sippe ist bis in die fünfte Generation von den Göttern verflucht, was zu einer unheilvollen Verkettung von Gewalt und Verbrechen führt. Das ist, andererseits, eine Steilvorlage für eine Familiensaga im 21. Jahrhundert.

Doppelte Titelfigur

Autorin Joanna Bednarczyk konzentriert sich in der Koproduktion mit dem Thalia Theater (die Hamburg-Premiere ist am 22. September) auf eine verkorkste Vater-Tochter-Beziehung: Iphigenie (Rosa Thormeyer) ist hier eine Pianistin, mit 21 Jahren auf dem Sprung zur Weltkarriere, Oda Thormeyer ist ihr Alter Ego, aus König Agamemnon wird ein erfolgreicher Universitätsprofessor (Sebastian Zimmler), Klytaimnestra ist eine stadtbekannte Schauspielerin, Christiane von Poelnitz verkörpert ihre Exaltiertheit mit Grandezza, aus Iphigenies Onkel Menelaos wird ein Top-Anwalt, den Stefan Stern etwas geckenhaft anlegt, dessen Gattin Helena wird von Lisa-Maria Sommerfeld als grandios durchgeknallte Schnalle in High Heels porträtiert. Die gutbürgerliche Familie hat ein dunkles Geheimnis: Der Onkel missbraucht seine Nichte seit zehn Jahren. Iphigenie zieht ihre Eltern ins Vertrauen, will den Onkel anklagen, den Missbrauch öffentlich machen. Die liebe Familie fürchtet aber den Skandal: „Mir ist schade um meine Karriere“, sagt der Vater und Mutter ergänzt: „Du willst doch nicht schief angesehen werden.“ Echt jetzt? Tatsächlich genügt hier so wenig, um die Tochter zum Schweigen zu bringen und in die Flucht zu schlagen.

Zunehmend verheddert sich der Bühnentext in eine antiquierte Opferverherrlichung und wenn dann noch Originalzitate eingestrickt werden, passt dramaturgisch hinten und vorne nichts mehr zusammen, das Stück zerfranst. Regisseurin Marciniak spart nicht mit Regieeinfällen – es gibt dramatische Lichtstimmungen und Schattenspiele, die Bühne ist knöcheltief unter Wasser gesetzt, die Schauspieler klatschen bäuchlings ins Nass, dann lodert auch noch Feuer im Klavier auf. Trotz aller kunsthandwerklichen Bemühungen werden bestenfalls Schlaglichter auf ein Drama geworfen, das Drama selbst wird verfehlt.